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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

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H. R.: Der "schöne Schein"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0289

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DER „SCHÖNE SCHEIN"

Die Kunst, so sagen Manche, habe es nur
mit dem „schönen Schein" zu tun. Sie
webe über das dürftige Angesicht des wirklichen
Lebens einen schimmernden Schleier, ihre Auf-
gabe sei — so ähnlich drückt es Nietzsche aus
— die „schöne Lüge", der fromme Betrug.

In tausend Abarten sieht man diese An-
schauung durch die Urteile der Menschen gehen,
meist verschwistert mit jener andern Anschau-
ung, daß auch die R e 1 i g i o n uns eine Art künst-
licher Welt erbaue, die mit einer tröstlichen
Maske das finstere wahre Wesen der Wirk-
lichkeit verberge.

In dieser Anschauung liegt, wenn man näher
zusieht, die Meinung, daß der Mensch nur dann
leben könne, wenn er sich irgendwie betrügt.
„Nur der Irrtum ist das Leben, und das Wissen
ist der Tod", läßt Schiller seine Kassandra sagen.
Aber was vermögen wir im Ernst mit einer An-
schauung anzufangen, die uns sagt, unser Da-
sein sei auf Lüge, auf eine Übertölpelung der
Erkenntnis gebaut, und ihm sei sofort der Boden
entzogen, sobald die kalte Vernunft erwacht
und den Betrug durchschaut? Was wäre unser
Leben wert, wenn es nur darauf beruhte, daß
Kunst und Religion unsre Erkenntnis mit tröst-
lichen Lügen umnebeln, daß wir als Trunkene
oder als Schlafende dahindämmern ? Was wäre
eine Kunst wert, von der wir uns in wachen
Augenblicken sagen müßten, daß ihren Gebil-
den keine Realität, sondern nur die Bedeutung
von lebenfördernden, aber gegenstandslosen
Gaukeleien zukäme? Die Menschheit würde

längst aufgehört haben, an Kunst und Religion
zu glauben, und mit ihnen wäre die Welt des
Menschen schon vor Zeiten zerfallen.

Nein, die Dinge liegen genau umgekehrt. Die
Kunst drückt zwar eine andere, höhere Ord-
nung aus, als in der sogenannten „Wirklichkeit"
zum Vorschein kommt. Aber diese höhere Ord-
nung ist die eigentlich wirkliche, und sie
kommt nur deshalb im Leben nicht immer zum
Vorschein, weil unsre Augen sie gemeinhin nicht
unmittelbar wahrnehmen. Unsre Augen sehen
die Trennung; die Kunst sieht das Verbindende.
Die Trennung ist kein Trug; aber noch viel
weniger ist das Verbindende ein Trug; sondern
es ist die inwendige, die weltstiftende Wahr-
heit. Der Verstand zeigt das Zufällige und Ord-
nungslose ; die Kunst zeigt den alles durchstrah-
lenden Sinn, das sonnenhafte Gesetz im Kern-
punkt. Verstand und Sinne führen uns die
vielfachen Brechungen und Hemmungen vor;
die Kunst aber zeigt in ihnen und über ihnen
die Schönheit mit ihrem ewigen Leuchten.
Gewiß ruht die Kunst zu einem wesentlichen
Teil auf der Arbeit der Sinne; aber in ihr sind
die Sinne vom Geist durchwirkt und erhellt,
und deshalb vermögen sie den Sphärenklang zu
hören und die Welt als Kosmos, d. h. als Ord-
nung und Schönheit zu erblicken. Die Kunst
lügt nicht; sie entschleiert nur. Sie verhüllt nicht,
sondern sie offenbart. Schönheit ist nicht Schein;
denn das hieße, daß Wahrheit Häßlichkeit wäre.
Vielmehr ist das Kunstwerk der Ort, wo Wahr-
heit, Leben und Schönheit sich begegnen, h. r.
 
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