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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 3.1921/​1922

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Schmid Noerr, Friedrich Alfred: Primitive Kunst und künstliche Primitivität
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https://doi.org/10.11588/diglit.44743#0024

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Dies zeitlos aufgerufene Sehertum, weil noch nicht bewußter Zeitrechnung
verfallen, das sich in heiligen Symbolen seiner Schau entäußert, ist gänzlich
unnachahmbar »in der Zeit«.
Die Primitiven sind verloren in den Auftrag. Darum verloren in den Stoff
wie in die Form. Ihr Werk wächst und sie wachsen durch ihr Werk mit
jenem mystischen Zeitverbrauch, der zwischen Samenkorn und Baum liegt
und der nachträglich erst dem rechnenden Bewußtsein meßbar wird. Ist
solch ein Werk dann fertig, so erkennt »von außen her« kein Mensch mehr,
welche Zeit — verstanden als Erlebnisdauer innerer Anschauung — ver#
gangen ist. Die ganz der Uhr und dem Kalender Unterworfenen meinen
wohl, nun auch in ein paar Stunden erlernen und nachahmen zu können,
was doch einmal da ist; aber sie vergessen dabei, daß das auswendig Ge#
lernte niemals das inwendig Lebendige faßt und daß darum auch das aus*
wendig Nachgeahmte tot und nichts als leere Maske bleibt.
Denn nochmals: was der Rose gleich »von Ewigkeit her in Gott geblüht
hat«, das entsteht und besteht aus einem unbewegten Wechselverhältnis
zwischen dem Seher und den offenbarenden Lebensmächten, dazwischen
kein Wind der Zeit weht. Eben darum sind die Schöpfungen der Primitiven
ohne Ausnahme und selbstverständlich religiös.
Das Religiöse in den primitiven Werken beschränkt sich keineswegs auf den
Gehalt an örtlichem Aberglauben, an rituellem Bedürfnis, oder an bekennt#
nishaft gebundenen Symbolen, die sich durchs Kunstwerk mitteilen. Es
liegt da noch ein Mehr an schwer bestimmbarem Bezug vor, das wir viel#
leicht am besten treffen, wenn wir es das Aufgetragene, das dem schöpfe#
rischen Willen Vorgeformte: das dem Primitiven Eingeträumte nennen.
Eben dies Religiöse im kindlichen Schöpfungsakt leuchtet auf, wenn wir
die Funktion der Zeit begreifen, wie sie im primitiv#genialen Kunstwerk
statthat. Die Primitiven haben helles Traumbewußtsein. Ihre Zeit ist Traum#
zeit. In einem Augenblick sind Jahre; Jahre sind ein Augenblick. Die Zeit
im Traum stimmt nicht zur Uhr. Mit unserm Maße kann sie nie gemessen
werden. Und so, wie Träumer, sind sie absichtslos, Ihr Wille ballt sich rest#
los zur Empfängnis, zum Gefäß. Ein ungeheurer Wille, »der Wille des
Vaters«, geht durch sie hindurch und baut mit ihres Blutes Art und Eigen#
schäft das ihnen selbst sogleich entfremdete Werk. Alsbald strömt darum
in die abgelöste Schöpfung bald animistisch#magisches, bald klar#theistisch#
kultisches Eigenleben ein. Das Wort, das Bild, der Ton verraten so, daß sie
in ihrem Ursprung mehr sind, als nur Menschen werk. Sie sind nicht Schöp#
fungen des Menschen; vielmehr ist Menschwerdung ihr Werk und ihre
Schöpfung; und der Mensch ist ihr Geschöpf.
Dies alles: Wirklichkeit vor aller Zeit, verlagert sich für uns und unseren

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