DOI Heft:
No. 58
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.37277#0297
N°. 58. HEIDELBERGER 1835.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Gewinus, Geschickle der deutschen Dichtung.
( Bes chlufs.)
Eben weil ich so bestimmt zwischen Form und Materie scheide
und die Form in allem Poetischen für die Hauptsache, für das
Eigentümliche der Kunst ansehe, weil sie die Materie mit
anderen Disciplinen theilen hann, eben darum urtheile ich auch
von den Italienern anders, als Hr. G. Was Gesinnung, was mo-
ralische, ja auch intellectuelle Tiefe und was Gemüth und Seele
betrifft, so hab’ ich das bei Gelegenheit des Parzival und der
Minnesinger verfochten, was vielleicht noch manchen Widerspruch
finden wird, dafs dies bei unsern Deutschen überall überlegen
ist; ich hab’ es selbst bei Gottfried für einzelne Stellen in Bezug
auf die formelle Ausführung verfochten; im Allgemeinen können
sich aber in Bezug auf diese die Deutschen nicht mit den Ita-
lienern messen, üeber Dante wurde ich mich mit Hrn. G. ver-
ständigen ; über Ariost hat er mich im Widerspruche mit mir
selbst sehen wollen, allein gewifs mit Unrecht. Wenn ich sage,
Ariosten fehle nichts als die historische Grundlage, und dann
wieder nichts als die plastische Sicherheit, um Homer zu seyn,
so ist das in meiner Ansicht Ein und dasselbe, weil Gedichte von
historischer Grundlage von selbst plastisch werden müssen. Wenn
ich jetzt ihn, jetzt die Nibelungen dem Homer am nächsten stelle,
so gilt das erstere der künstlerischen Fertigkeit in Bewältigung
einer ganzen Welt, das letztere dem grofsartigen Inhalt und der
plastischen Manier der Dichtung. Ich soll mich überhaupt auf
Grillen und Widersprüchen betreten lassen. Was die Grillen an-
geht, so dürfte ich das gerne einräumen, denn wer hat die nicht!
Wenn nur nicht vielleicht grade Dinge damit gemeint sind,
die mir die fruchtbarsten Wahrheiten scheinen. Es ist gar kein
Paradoxon, wenn man behauptet, dafs in Zeiten von so verfei-
nerter Cultur die Verfechtung von Natur und Wahrheit am leich-
testen grillenhaft sich ausnimmt; in der ganzen Geschichte sehen
die natürlichen Weisen, wo sie in feiner Gesellschaft auftreten,
wie Sonderlinge aus ; und es kann einem traurige Gedanken
wecken, dafs Machiavelli die ewdgen historischen Wahrheiten, die
XXVIII. Jahrg. 9 Heft 58
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Gewinus, Geschickle der deutschen Dichtung.
( Bes chlufs.)
Eben weil ich so bestimmt zwischen Form und Materie scheide
und die Form in allem Poetischen für die Hauptsache, für das
Eigentümliche der Kunst ansehe, weil sie die Materie mit
anderen Disciplinen theilen hann, eben darum urtheile ich auch
von den Italienern anders, als Hr. G. Was Gesinnung, was mo-
ralische, ja auch intellectuelle Tiefe und was Gemüth und Seele
betrifft, so hab’ ich das bei Gelegenheit des Parzival und der
Minnesinger verfochten, was vielleicht noch manchen Widerspruch
finden wird, dafs dies bei unsern Deutschen überall überlegen
ist; ich hab’ es selbst bei Gottfried für einzelne Stellen in Bezug
auf die formelle Ausführung verfochten; im Allgemeinen können
sich aber in Bezug auf diese die Deutschen nicht mit den Ita-
lienern messen, üeber Dante wurde ich mich mit Hrn. G. ver-
ständigen ; über Ariost hat er mich im Widerspruche mit mir
selbst sehen wollen, allein gewifs mit Unrecht. Wenn ich sage,
Ariosten fehle nichts als die historische Grundlage, und dann
wieder nichts als die plastische Sicherheit, um Homer zu seyn,
so ist das in meiner Ansicht Ein und dasselbe, weil Gedichte von
historischer Grundlage von selbst plastisch werden müssen. Wenn
ich jetzt ihn, jetzt die Nibelungen dem Homer am nächsten stelle,
so gilt das erstere der künstlerischen Fertigkeit in Bewältigung
einer ganzen Welt, das letztere dem grofsartigen Inhalt und der
plastischen Manier der Dichtung. Ich soll mich überhaupt auf
Grillen und Widersprüchen betreten lassen. Was die Grillen an-
geht, so dürfte ich das gerne einräumen, denn wer hat die nicht!
Wenn nur nicht vielleicht grade Dinge damit gemeint sind,
die mir die fruchtbarsten Wahrheiten scheinen. Es ist gar kein
Paradoxon, wenn man behauptet, dafs in Zeiten von so verfei-
nerter Cultur die Verfechtung von Natur und Wahrheit am leich-
testen grillenhaft sich ausnimmt; in der ganzen Geschichte sehen
die natürlichen Weisen, wo sie in feiner Gesellschaft auftreten,
wie Sonderlinge aus ; und es kann einem traurige Gedanken
wecken, dafs Machiavelli die ewdgen historischen Wahrheiten, die
XXVIII. Jahrg. 9 Heft 58