XXIV. JAHRGANG.
DARMSTADT.
NOVEMBER 1913.
DAS HAUS WIEGAND IN DAHLEM BEI BERLIN
ERBAUT VON PROFESSOR PETER BEHRENS-NEUBABELSBERG
Der erregte und durchaus moralische Kampf
gegen die »Villa« verleitete die Reform-
lustigen zum sentimentalen Landhaus. Man wandte
sich ab von den stolzen Miniaturpalästen und
lächelte über die Renaissancefassaden, mit denen
bis dahin das Einfamilienhaus des wohlhabenden
Bürgers verkleidet worden war. Die Erkenntnis
und die Absicht waren gut; zuweilen nur blieb
das Ergebnis nichts anderes als eine Flucht aus
dem Museum der historischen Stile in das Museum
der Volkskunst. Man baute nicht mehr floren-
tinisch noch Versailles; man baute jetzt nieder-
deutsche Haide oder süddeutsches Gebirge.
Wenn einst Säulen, Rustika und dekorative Pup-
pen das Entscheidende waren, so regierten nun
das große, weitüberhängende Dach, der hohe
Giebel und die farbigen Fensterläden. Im Zeichen
der Heimatskunst geschahen nicht weniger Tor-
heiten als einst, da die Villen »Schwanhild« und
»Burgfried« aus Putz und Rabitz zusammengebaut
worden waren. Hat es doch selbst nicht an
Versuchen gefehlt, das Strohdach neu zu beleben.
Aber auch da, wo solche offenbaren Kindlich-
keiten vermieden wurden, mangelte oft genug
die Einsicht, daß auch das schlichteste Wohnhaus
nicht nur ein Instrument der praktischen Lebens-
führung, sondern darüber hinaus eine architek-
tonische Form zu sein hat. Die Lehrsätze von
der Gebrauchsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit, der
Materialgerechtheit und wie diese Tugenden
sonst heißen, machten glauben, daß die Aufgabe
des Baumeisters erfüllt sei, wenn dem Programm
des Familienlebens Genüge geschah. Man baute
mehr nach hygienischen als nach künstlerischen
Grundsätzen; man baute mehr nach dem Ideal
der Köchin als nach dem inneren Bedürfnis von
Menschen, die gewohnt sind, die abstrakte Form
zu fühlen. In den Baubeschreibungen spielte die
Himmelsgegend eine entscheidende Rolle; man
war zufrieden, wenn der Wirtschaftsflügel nach
Norden und die Schlafzimmer gegen Südosten
zu liegen kamen. Zuweilen schätzte man die
Qualität solch eines Vernunftshauses nach der
Zahl der vorhandenen W.-C. Die Grundrisse
dieser Häuser sind leicht begreifbar; es liegen
die Wohn- und Schlafräume zu Gruppen geordnet,
sie sind auch getrennt von den Wirtschaftsräumen,
es ist für Windfang und Anrichte, für den Abzug
der verbrauchten Luft und der Küchengerüche
gesorgt. Was aber diese Grundrisse meist ver-
1913. XI. 1.
DARMSTADT.
NOVEMBER 1913.
DAS HAUS WIEGAND IN DAHLEM BEI BERLIN
ERBAUT VON PROFESSOR PETER BEHRENS-NEUBABELSBERG
Der erregte und durchaus moralische Kampf
gegen die »Villa« verleitete die Reform-
lustigen zum sentimentalen Landhaus. Man wandte
sich ab von den stolzen Miniaturpalästen und
lächelte über die Renaissancefassaden, mit denen
bis dahin das Einfamilienhaus des wohlhabenden
Bürgers verkleidet worden war. Die Erkenntnis
und die Absicht waren gut; zuweilen nur blieb
das Ergebnis nichts anderes als eine Flucht aus
dem Museum der historischen Stile in das Museum
der Volkskunst. Man baute nicht mehr floren-
tinisch noch Versailles; man baute jetzt nieder-
deutsche Haide oder süddeutsches Gebirge.
Wenn einst Säulen, Rustika und dekorative Pup-
pen das Entscheidende waren, so regierten nun
das große, weitüberhängende Dach, der hohe
Giebel und die farbigen Fensterläden. Im Zeichen
der Heimatskunst geschahen nicht weniger Tor-
heiten als einst, da die Villen »Schwanhild« und
»Burgfried« aus Putz und Rabitz zusammengebaut
worden waren. Hat es doch selbst nicht an
Versuchen gefehlt, das Strohdach neu zu beleben.
Aber auch da, wo solche offenbaren Kindlich-
keiten vermieden wurden, mangelte oft genug
die Einsicht, daß auch das schlichteste Wohnhaus
nicht nur ein Instrument der praktischen Lebens-
führung, sondern darüber hinaus eine architek-
tonische Form zu sein hat. Die Lehrsätze von
der Gebrauchsfähigkeit, der Zweckmäßigkeit, der
Materialgerechtheit und wie diese Tugenden
sonst heißen, machten glauben, daß die Aufgabe
des Baumeisters erfüllt sei, wenn dem Programm
des Familienlebens Genüge geschah. Man baute
mehr nach hygienischen als nach künstlerischen
Grundsätzen; man baute mehr nach dem Ideal
der Köchin als nach dem inneren Bedürfnis von
Menschen, die gewohnt sind, die abstrakte Form
zu fühlen. In den Baubeschreibungen spielte die
Himmelsgegend eine entscheidende Rolle; man
war zufrieden, wenn der Wirtschaftsflügel nach
Norden und die Schlafzimmer gegen Südosten
zu liegen kamen. Zuweilen schätzte man die
Qualität solch eines Vernunftshauses nach der
Zahl der vorhandenen W.-C. Die Grundrisse
dieser Häuser sind leicht begreifbar; es liegen
die Wohn- und Schlafräume zu Gruppen geordnet,
sie sind auch getrennt von den Wirtschaftsräumen,
es ist für Windfang und Anrichte, für den Abzug
der verbrauchten Luft und der Küchengerüche
gesorgt. Was aber diese Grundrisse meist ver-
1913. XI. 1.