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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 41.1925-1926

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Schürer, Oskar: Picassos Klassizismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.14161#0231

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PICASSOS KLASSIZISMUS

Die Themastclluiig verlangt zwei grundsätz-
liche Klärungen. Erstens: Was verstehen
wir in diesem Zusammenhang unter Klassizis-
mus? Zweitens: Wie fügt sich der so verstan-
dene Klassizismus ins Gesamtwerk Picassos ein?
Aus beiden Fragestellungen erhellt schon, daß
es hier nicht um jene von der aktuellen Kunst-
literatur als neoklassizistisch bezeichnete Mal-
periode Picassos geht, mit der der Künstler von
1917 ab auch seine Anhänger verblüffte. Und
aus ihrer Beantwortung wird deutlich werden,
daß hier ein das ganze Schallen dieses Malers
durchziehendes Prinzip zur Diskussion gestellt
wird, das ohne gleichlaufende Zeiteinllüsse nicht
zu erklären wäre.

Unter Klassizismus sei hier jenes klärende Prin-
zip verstanden, zu dem die Kunst immer wieder
nach aufgeregten und sich in Idealismen ver-
lierenden Zeiten zurückkehrt, wobei die An-
lehnung an die traditionelle Klassik eine gewisse
Regulatur verbürgt. Im historischen Klassizis-
mus um 1800 ist diese Eigenart am kräftigsten
hervorgetreten und so zu einem eigenen Stil er-
starkt. Und hier zeigt sich auch sehr deutlich,
welchen Anteil das Zurückgehen auf naturge-
gebene Formwelten an dieser Gestaltklärung hat,
so daß man berechtigt ist, von einer idealisti-
schen und einer naturalistischen Komponente
des Klassizismus zu sprechen. Es ist eine innere
Zucht, die im Klassizismus wirksam ist, eüi
Regulativ der Strenge und der Bescheidung.
Aus solcher Einsicht lassen sich alle Merkmale
des Klassizismus unschwer ableiten.
Wie fügt sich der so verstandene Klassizismus
ins Gesamtwerk Picassos ein? Y\ ir überschauen
dieses Gesamtwerk. Drei W esenskomponenten
scheinen sich in ihm zur Einheit zu fügen. (Ein-
heit trotz aller Für den Oberflächenblick als
Sprünge erscheinenden Wandlungen!): Das im
Grunde treibende, zu starken Außerungsformen
gelangende Dekadenzgefühl, der alle Formen
in ihre wirksamste Augensichl treibende Deko-
rativismus, und jener Klassizismus, der um 191 7
die ganze Kraft des Bildnerischen in sich auf-
zusaugen schien. Um die komplexe Gestalt des
Künstlers aufzuzeigen, müßten jetzt die Mi-
schungen, die diese Komponenten miteinander
eingehen, sowie die gegenseitigen ^ erstärkungen
und Kompensationen, zu denen sie aufeinander

wirken, aufgewiesen werden. Auch die eigen-
tümliche Brechung, die jede dieser Kompo-
nenten durch das in der Tiefe treibende spanisch-
maurisch-jüdische Blut erfährt, wäre zu be-
leuchten. Es wäre Anlaß zu einer umfänglichen
Analyse. Hier kann nur die durchgehende Wir-
kung der klassizistischen Wesenskomponenle
Picassos betont werden. Nicht zum geringsten
Grunde deshalb, weil in ihrem Wallen jenes
Wesensprinzip Picassos zum Ausdruck kommt,
das am ehesten eine Weitung und Kräftigung
dieses großen Talents zu einer mehr als nur ak-
tuellen Y\ irkung verspricht.
Auch wenn uns der frühe Hang Picassos zum
Klassizismus nicht aus Gesprächen und aus an-
dern aufgezeichneten Erlebnissen verbürgt wäre,
müßten wir ihn aus Bildern erkennen, die um
die Jahre 1903— 1905 entstanden sind. Die B äum-
lichkeil, soweit sie überhaupt empfunden ist,
wird in die beruhigte Fläche gesammelt. Und
sie, die Fläche, gibt ihr Innenleben ab an den
Kontur, der als „gelühlte Linie" Hauptaus-
drucksträger dieses Sehens wird. Ein Bild wie
das: „Knabe mit Pferd" (1905) ist für diese Art
eines gemäßigten Klassizismus sehr bezeich-
nend. Es ist deutlich: Picasso wandelt auf Ce-
zanneschen Spuren. Aber vielleicht ist es die
Einwirkung des Dekadenzgcfühls, was das ele-
mentare Sehen des Meisters von Aix hier ins
Klassizistische erweicht. Und die gleiche Er-
weichung entfernt auch zugunsten einer klassi-
zistischen Note von dem andern Pol plastischen
Sehens: von Marees, an den man motivisch hier
erinnert wird. Dessen räumliche Intensität wird
hier auch durch eine leise dekorative Absicht
neutralisiert.

Wie in den kubislischen \ ersuchen dieser
Hang zum Klassizismus sich auswirkt, wurde an
anderer Stelle ausführlich erläutert*). Was beim
ersten Hören als Paradox wirkt, die klassizi-
stische Grundnote des Kubismus, das wird bei
genauerem Studium zur aufschlußreichsten Be-
ziehung Für das Wesen dieser Kunstrichtung
und dieses Künstlers. Erst wer das peinliche
Streben der Kubisten nach innerer Ausgew ogen-
heit des Bildganzen als latente Klassik erkannt

*) In dem Aufsatz: „Der Neoklassizismus in der jüngsten
französischen Malerei". Im Jahrbuch für Philologie, Mün-
chen Kp.V

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