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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 41.1925-1926

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Volbehr, Theodor: Von Herder zu Kandinsky
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VON HERDER ZU — KANDINSKY

Die Kunsttheoretiker der Gegenwart sind im
allgemeinen so sehr von dieser ihrer Gegen-
wart erfüllt, daß sie selten nur dcrKunstansch.au-
ungen entlegener Zeiten gedenken. Nur wird
hin und wieder mit deutlicher Mißbilligung von
Lessings „Laokoon" gesprochen oder auch von
Winckelmanns „Gedanken über die Nachah-
mung der griechischen Werke". Auch kann es
passieren, daß einmal Goethe mit tiefem Respekt
oder — je nach der ästhetischen Einstellung —
mit leisem Kopfschütteln erwähnt wird. Aber
Herder nennt man nicht mehr, wenn von bil-
dender Kunst und ihren Aposteln die Rede ist.
Und doch steht von allen „praktischen Ästhe-
tikern" des 18. Jahrhunderts keiner der Anschau-
ungswelt modernster Kunst näher als Herder.
Man scheint es völlig vergessen zu haben, daß er
es war, der bei allem Respekt vor Lessing sich
am energischsten gegen die Knebelung der bil-
denden Kunst wandte, die im „Uaokoon" zu
einem glänzend formulierten, aber rücksichts-
losen Ausdruck gekommen war. Es mochte ihm
das Wort noch in den Ohren klingen, das er als
Student in Königsberg aus dem Munde Job.
Georg Hamanns gehört hatte: „Wer Willkür
und Phantasie den schönen Künsten entziehen
will, stellt ihrer Ehre und ihrem Leben als ein
Meuchelmörder nach!"

Niemals dachte Herder daran, der Antike ihre
Bedeutung zu schmälern, aber man solle sie
nicht zum Gesetzgeber für die Kunst aller Zeiten
machen. In seinen „Fragmenten zur deutschen
Literatur" sprach er sich in der unzweideutig-
sten Weise gegen die Nachahmung der klassi-
schen Kunst aus. Er will keineswegs, daß man
die Alten vernachlässige, ja er sagt sogar: „Will
ich jemand von der Kenntnis der Alten abhalten
oder ihn in ihrem Studium ermüden, der werfe
mein Buch ins Feuer", aber er betont, daß es
doch etwas anderes sei, sich in das Wesen frem-
der Kunst zu vertiefen und zu verstehen ver-
suchen, aus welchen Bedingungen heraus sie
so ward, als sich zum Sklaven einer fremden
Kunst machen und inmitten einer neuen Kultur
arbeiten, als gehöre man einem vergangenen
Zeitalter an. „Nichtdas ist großer Ruhm: Dieser
Dichter singt wie Horaz, jener Redner spricht
wie Cicero, sondern das ist ein großer, seltener,
beneidenswerter Ruhm: so hätte Horaz gedich-
tet, Cicero geschrieben, wenn sie über diesen
^ orfall, auf dieser Stufe der Kultur, zu der Zeit,

zu diesen Zwecken, für die Denkart dieses Vol-
kes, in dieser Sprache geschrieben hätten". W as
vom Dichter gelte, gelte auch vom Künstler.
Diesen Standpunkt hält Flerder zu allen Zeiten
fest. Er unterstützt Winckelmanns Beweisfüh-
rung, daß in Griechenland alle Voraussetzungen
für eine hoheKunst vorhandengewesen undfolg-
lich eine herrliche Kunstblüte entstehen mußte;
aber er geht zu der Behauptung weiter: so habe
jedes Volk und jedes Zeitalter seine besonderen
Voraussetzungen für eine Kunst, die ihm und
nur ihm eigentümlich sei.

Herder verlangt, daß an die Stelle des Modege-
schwätzes über Kunst ein Urteil trete, das zu-
nächst nach den natürlichen Wurzeln der je-
weiligen Kunstübung frage. Flatte man einsehen
gelernt, daß jede gesunde Kunst aus dem Boden
ihrer Fleimat hervorwachsen müsse, so mußte es
zur Selbstverständlichkeit werden, daß deutsche
Kunst deutscher Eigenwuchs sein mußte. Das
Prinzip des natürlichen Wachstums der Kunst
und der dadurch bedingtenBerechtigungjederna-
tionalen künstlerischenEigenart war gefunden.
Und wenn man alle Äußerungen Flerders in be-
zug auf diese das ganze Zeitalter lebhaft bewe-
genden Fragen durchmustert, soergibt essich, daß
er in jedemeinzelnen Punkte in schrolfem Gegen-
satz zu W inckelmann und Lessing, zu Hage-
dorn,Mengs und den anderen Kunst theoretikern
der Zeit steht.Mankann seine künstlerischeWelt-
anschauung in die drei Sätze zusammenfassen:

1. Allgemein-gültigeKunstgesetze kann man aus
keiner Kunst ablesen, auch nicht aus der an
sich meisterlichen Kunst der Antike.

2. Jede Kunstäußerung ist herausgewachsen aus
den besonderen Bedingungen ihrer Zeit und
ihrer Nation.

3. Jeder rechte Künstler spreche seine eigene
Sprache, nicht die vergangener Zeiten, aber
auch nicht die seiner Nachbarn.

Das also waren Gedanken, die Herder als erster
aussprach und die er dann in Straßburg an Goethe
weitergab,als sich dieser mit junger Begeisterung
an ihn anschloß. Aus ihnen erwuchs Goethes
Hymnus auf das Straßburger Münster, aus ihnen
der begeisterte und begeisternde Ausruf: „Der
deutsche Genius will auf keinen fremden Flügeln,
und wären es Flügel der Morgenröte, emporge-
hoben und fortgerückt werden."
Aus ihnen erwuchs alles, was dann in den näch-
sten Jahrzehnten von Fleinse, Wackenroder,

Die Kunst fcr Alle. XXXXI. 10. — Juli 19*J6

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