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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 19.1921

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Heft 2
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Grautoff, Otto: Vom Hotel de Biron nach Issy und Marly le Roi: die französische Kunst seit 1914
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https://doi.org/10.11588/diglit.4746#0056

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AUGUSTE RODIN, CLEMENCEAU

Gabriel hat sich hauptsächlich auf der Garten-
fassade entfaltet. Reiche Steinkonsolen stützen den
Balkon des ersten Stockwerkes. Köstliche Schluß-
steine überhöhen die Fenster. Ein schöner „Triumph
der Flora" schmückt das dreieckige Giebelfeld. Diese
reizende Fassade erhebt sich auf einer Terrasse, die
einige Stufen über dem Boden angelegt ist. Von
hier aus schweift der Blick die Lindenalleen hin-
unter, zwischen denen heute verwunschene Wildnis
herrscht. Hier und da hat man auf dem üppig
grünenden Rasen antike Torsi aus Rodins Besitz
und eigene Werke seiner Hand verstreut. Das In-
nere des Hotels ist nicht mehr so vollständig er-
halten. Die Schwestern von Sacre-Cceur haben
einen Teil des Innenschmucks verkauft, als ihnen
durch das Trennungsgesetz die Ausweisung drohte.
Das alte Gabrielsche Treppengeländer, das Balkon-
gitter, die köstlichen Schlösser aus alter Zeit sind
verschwunden; allein die feine Symmetrie im In-
nern, das scheinbar komplizierte und doch ganz
einfache Achsenkreuz des Baukörpers ließ sich nicht

zerstören. In weiträumiger Folge ist in den Räumen
des Schlosses das ganze Lebenswerk des Meisters
verteilt. Die Aufstellung ist mustergültig. Keine
Skulptur stört die andere. Jedes Werk wird um-
flossen von Licht und Luft, wie Rodin es liebte
und manche Statuen haben als Hintergrund das
Gartengrün, das durch die Fenster schimmert. Die
Auswahl aus der Lebensarbeit dieses großen Bild-
hauers ist so getroffen, daß alle Seiten seiner Be-
gabung zur Geltung kommen. Von den jugend-
lichen Versuchen Rodins als Maler sind viele Proben
zu sehen. In den landschaftlichen Studien tritt er
als ein Nachfolger der Schule von Barbizon vor
uns, der bald sich in Parallele zu Carriere ent-
wickelte. Einige frühe Aktstudien, Entwürfe für
historische Themen lassen ihn als einen tüchtigen,
aber nicht gerade überragenden Akademiker er-
scheinen. Auch die frühen Bildnisstudien seiner
Frau, seine erste Porträtbüste, das Bildnis seines
Vaters Jean Baptiste Rodin aus dem Jahre 1861,
würden kaum museale Würdigung verdienen, wenn
es nicht Jugendarbeiten Rodins wären. Der Vater
des Künstlers zeigt den Kopf eines römischen Im-
perators mit schmalen, festgeschlossenen Lippen.
Es ist in diesen Blättern nicht nötig, das Lebens-
werk des Meisters von l'homme au nez casse noch
einmal zu würdigen. Aus den letzten Lebensjahren
des Meisters sind die Büsten Clemenceaus und
Mahlers sowie zahlreiche Zeichnungen zu sehen,
die schönsten Stücke seiner Sammlung, zwei Bilder
von van Gogh, ein Bild Renoirs und ein Bild
Carrieres, sowie zahlreiche antike und gotische Skulp-
turen. Am Tor des Hotels liegt die Schloßkapelle, in
der, ebenfalls in wirksamer Aufstellung, Gipsabgüsse
nach Werken des Meisters untergebracht sind. Dort
stehen auch der Balzac und das Höllentor. Im Vesti-
bül des Schlosses, an dessen Wänden die wenigen Ra-
dierungen Rodins hängen, werden Photographien feil-
gehalten — unter ihnen Aufnahmen des Greises auf
dem Totenbett. Wie ein entschlafener Riese des Geistes
liegt er da: die gewaltige Nase hebt sich aus dem
Gesicht heraus, von dem der lange weiße Bart tief
über die Brust herunterwallt. Mit rosigem Gesicht,
aus dem die blauen Augen klug und heiß hervor-
blitzten, umrahmt von dem weißen, langen Bart trat
er mir zuletzt im Juli 1914 entgegen inmitten eines
sonnigen Gartens Mittelfrankreichs, der in üppiger
Wildnis wucherte. Damals hatte ich den Eindruck:
Gott Vater selbst reicht mir die Hand zum Gruße

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