Architektur und Kleidung.
5U- Kopfleiste aus der Lhronik der Stadt Stuttgart,
von Gg. ljalmhuber, Stuttgart.
reihe von Selbständigkeit und Unselbständigkeit.
Treten wir in eine Wohnung oder in ein Zimmer
ein, so erkennen oder fühlen wir bei einiger Auf-
merksamkeit bald, ob sich darin der Geist des Be-
sitzers oder der des Möbelgeschäftes ausspricht.
Auf keinem der Gebiete, auf denen es eine an-
gewandte Aunst gibt, und auf denen wir auch häufig
den Ehrgeiz haben, eine solche zu betätigen oder
wenigstens zu fingieren, spielt nun der unselbständige,
gleichmäßige Bezug aus einem geschäftlichen Institut
eine solche Rolle wie auf dem der Aleidung. Sei
es nun der kleine Schneidermeister oder das große
Modegeschäft: in beiden Fällen übertragen wir
einem Fremden die Aufgabe, unseren Aörper so zu
kleiden, wie er es für gut hält. Damit gehen wir,
die Tüchtigkeit dieses Fremden als des Fachmannes
vorausgesetzt, ganz richtig vor, solange wir mit
unserer Aleidung bloße Zweckmäßigkeit, nicht eine
künstlerisch ausgestaltete Zweckmäßigkeit beab-
sichtigen. Nach den Gewohnheiten unserer Aultur
gilt jenes für die Aleidung des erwachsenen Mannes
wohl allgemein; es bleibt ein stärkeres Interesse an
Schönheit lediglich für die Aleidung der Frauen und
Ainder übrig. Und diese Aleidung ist in der Regel
ein Ausdruck des Schneidergeschäftes, nicht der zu
5\2. Kopfleiste aus der Lhronik der Stadt Stuttgart,
von Gg. ksalmhuber, Stuttgart.
kleidenden Person. Selbst die Städte, in denen an
weiblicher Aleidung anscheinend der größte Betrag
ait Geschmack und persönlicher Anmut entfaltet wird,
Wien und Paris, bieten ersichtlich Beispiele dafür.
Nicht, daß man sich nach der Mode, sondern daß
man sich nach dem Modemagazin kleidet; daß die
eine Person eine Aleidung trägt, welche (mit etwaigen
Größenänderungen) auch tausend andere Personen
tragen könnten und wollten; daß kaunt irgend ein
Ehrgeiz besteht, sich hier einer eigenen Ausdrucks-
weise zu bedienen, wie selbst gewöhnliche Menschen
oft ihre eigentümliche Redeweise haben: das ist's,
was wir meinen und beklagen.
Nun steht fest, daß wenigstens in unserer Aultur
kaum irgend eine Abweichung von dem allgemein
Üblichen so sehr geahndet wird wie eine in der
Aleidung. Ein nicht ganz gebräuchlicher put, ein
anderer als beispielsweise ein „Matrosen"-Anzug für
einen Anaben von heute, eine Linienführung in einem
weiblichen Aleid, die etwa noch nicht vorgekommen
war — und der Träger einer solchen Versündigung
an der Majestät des Volkswillens ist seines ruhigen
Daseins nicht mehr sicher! Wir meinen aber damit
nicht den „Stutzer", weder in seiner feineren Art des
„Dandys", noch in seiner unfeineren des „Gigerls".
Dieser mag die unglaublichsten Absonderlichkeiten an
sich tragen: er ist nie originell in dem Sinn, daß er
seine Persönlichkeit in einer körperlichen Ausdrucks-
weise gegen die Macht der öffentlichen Gepfiogenheit
durchsetzen will; er ist gerade der Unselbständigste.
Eine auffällig karierte Jacke ist als solche keine
Persönlichkeitsbetätigung, so wenig wie eine absonder-
liche Themawahl einen neuen individuellen Stand der
Dichtkunst bezeugt, oder wie ein kurioses Grnament
an einem paus eine neue individuelle Wendung der
Architektur bekundet. Und gerade wenn mit beson-
derer Absicht nach Griginalität und nach Schönheit
gestrebt wird, kommt meistens das Unoriginellste
und Unschönste heraus. Sehr häufig ist auf dem
Gebiete der Aleidung der Erfolg der, daß dem
nüchternsten, geschmacklosesten Anzug einzelne Schmuck-
stückchen aufgesetzt werden: da eine „schöne Schleife"
und dort ein kostbares Band; und bei Männern
mitten hinein in das graueste Anzugselend eine
„großartige" Arawatte. Es ist schließlich wieder
wie bei der Architektur, wenn ein paus seine öde
Struktur durch prunkvolle Ziergruppen wettmachen
will, oder wie bei der Innendekoration, wenn der
Pausherr eine gehaltlose Einrichtung durch einige
I Prunkvasen wertvoll machen will. Man kann nun
I wetten, daß gerade all diese pilfsmittel, in denen sich
[ Schönheit und eventuell Griginalität ganz eigens
> konzentrieren soll, die allergewöhnlichsten Aunstrede-
2Y8
5U- Kopfleiste aus der Lhronik der Stadt Stuttgart,
von Gg. ljalmhuber, Stuttgart.
reihe von Selbständigkeit und Unselbständigkeit.
Treten wir in eine Wohnung oder in ein Zimmer
ein, so erkennen oder fühlen wir bei einiger Auf-
merksamkeit bald, ob sich darin der Geist des Be-
sitzers oder der des Möbelgeschäftes ausspricht.
Auf keinem der Gebiete, auf denen es eine an-
gewandte Aunst gibt, und auf denen wir auch häufig
den Ehrgeiz haben, eine solche zu betätigen oder
wenigstens zu fingieren, spielt nun der unselbständige,
gleichmäßige Bezug aus einem geschäftlichen Institut
eine solche Rolle wie auf dem der Aleidung. Sei
es nun der kleine Schneidermeister oder das große
Modegeschäft: in beiden Fällen übertragen wir
einem Fremden die Aufgabe, unseren Aörper so zu
kleiden, wie er es für gut hält. Damit gehen wir,
die Tüchtigkeit dieses Fremden als des Fachmannes
vorausgesetzt, ganz richtig vor, solange wir mit
unserer Aleidung bloße Zweckmäßigkeit, nicht eine
künstlerisch ausgestaltete Zweckmäßigkeit beab-
sichtigen. Nach den Gewohnheiten unserer Aultur
gilt jenes für die Aleidung des erwachsenen Mannes
wohl allgemein; es bleibt ein stärkeres Interesse an
Schönheit lediglich für die Aleidung der Frauen und
Ainder übrig. Und diese Aleidung ist in der Regel
ein Ausdruck des Schneidergeschäftes, nicht der zu
5\2. Kopfleiste aus der Lhronik der Stadt Stuttgart,
von Gg. ksalmhuber, Stuttgart.
kleidenden Person. Selbst die Städte, in denen an
weiblicher Aleidung anscheinend der größte Betrag
ait Geschmack und persönlicher Anmut entfaltet wird,
Wien und Paris, bieten ersichtlich Beispiele dafür.
Nicht, daß man sich nach der Mode, sondern daß
man sich nach dem Modemagazin kleidet; daß die
eine Person eine Aleidung trägt, welche (mit etwaigen
Größenänderungen) auch tausend andere Personen
tragen könnten und wollten; daß kaunt irgend ein
Ehrgeiz besteht, sich hier einer eigenen Ausdrucks-
weise zu bedienen, wie selbst gewöhnliche Menschen
oft ihre eigentümliche Redeweise haben: das ist's,
was wir meinen und beklagen.
Nun steht fest, daß wenigstens in unserer Aultur
kaum irgend eine Abweichung von dem allgemein
Üblichen so sehr geahndet wird wie eine in der
Aleidung. Ein nicht ganz gebräuchlicher put, ein
anderer als beispielsweise ein „Matrosen"-Anzug für
einen Anaben von heute, eine Linienführung in einem
weiblichen Aleid, die etwa noch nicht vorgekommen
war — und der Träger einer solchen Versündigung
an der Majestät des Volkswillens ist seines ruhigen
Daseins nicht mehr sicher! Wir meinen aber damit
nicht den „Stutzer", weder in seiner feineren Art des
„Dandys", noch in seiner unfeineren des „Gigerls".
Dieser mag die unglaublichsten Absonderlichkeiten an
sich tragen: er ist nie originell in dem Sinn, daß er
seine Persönlichkeit in einer körperlichen Ausdrucks-
weise gegen die Macht der öffentlichen Gepfiogenheit
durchsetzen will; er ist gerade der Unselbständigste.
Eine auffällig karierte Jacke ist als solche keine
Persönlichkeitsbetätigung, so wenig wie eine absonder-
liche Themawahl einen neuen individuellen Stand der
Dichtkunst bezeugt, oder wie ein kurioses Grnament
an einem paus eine neue individuelle Wendung der
Architektur bekundet. Und gerade wenn mit beson-
derer Absicht nach Griginalität und nach Schönheit
gestrebt wird, kommt meistens das Unoriginellste
und Unschönste heraus. Sehr häufig ist auf dem
Gebiete der Aleidung der Erfolg der, daß dem
nüchternsten, geschmacklosesten Anzug einzelne Schmuck-
stückchen aufgesetzt werden: da eine „schöne Schleife"
und dort ein kostbares Band; und bei Männern
mitten hinein in das graueste Anzugselend eine
„großartige" Arawatte. Es ist schließlich wieder
wie bei der Architektur, wenn ein paus seine öde
Struktur durch prunkvolle Ziergruppen wettmachen
will, oder wie bei der Innendekoration, wenn der
Pausherr eine gehaltlose Einrichtung durch einige
I Prunkvasen wertvoll machen will. Man kann nun
I wetten, daß gerade all diese pilfsmittel, in denen sich
[ Schönheit und eventuell Griginalität ganz eigens
> konzentrieren soll, die allergewöhnlichsten Aunstrede-
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