Architektur und Kleidung.
EINLADUNG ZUR
AUSSTELLUNG!
DER ARBEITEN s
5\5. Einladungskarte von Gg. ijalmhuber, Stuttgart.
heute in den gewöhnlichen Straßen baut, in den
Musiksälen gewöhnlich vorträgt, in den Aleider-
geschäften gewöhnlich sich kleidet; das tut aber ein
Aleid, das die Gliederung des Aörpers nachzeichnet
und diese Gliederung in der dem Aleid möglichen
Weise näher und reich und mannigfaltig ausprägt,
das Rundes nicht als Eckiges, Einschnitte nicht als
Ausbuchtungen oder gleichmäßige Fortsetzungen,
Stellen der deutlicheren Offenbarungen der eigent-
lichen Menschen- und Persönlichkeitsnatur nicht als
unbedeutendere behandelt und den Anblick stets von
dem Gewichtigeren zum weniger Gewichtigen leitet;
kurz also, das Zeugnis gibt von der Beschaffenheit
des Leibes und des Geistes seines Trägers, das für
diesen ebenso ein paus ist, wie das Gebäude aus
Stein ein anderes Aleid seines Besitzers und seiner
inateriellen und ideellen Welt sein kann.
Wer etwas nicht recht zu sagen weiß, macht
viele Worte; wer nicht recht zu bauen weiß, macht
viele Ornamente; wer nicht recht eine Wohnung
auszustatten weiß und es doch tun will, häuft viel
„Schund" an; und wer nicht recht zu kleiden weiß,
überladet den Leib mit Firlefanz. So kommt auf
den Aörper eine ähnliche Unruhe wie auf die Fassade
eines städtischen Protzbaues oder in die Ecke eines
I Salons oder in die Linien eines gewöhnlichen
j Lampen- oder Leuchterkörpers oder auf den Rücken
eines im „Originalband" gekauften Buches. An
Stelle des Gefühls der Sicherheit, der durchsichtigen
Alarheit, der Einfachheit und hiermit der schlichten
| Größe tritt die Unruhe und Ungewißheit, die wir
von dem Anblick einer jeden Überladung her kennen.
Nicht bald eine verläßlichere Wirkung auf unseren
Geschmack, als wenn wir an einem Aunstwerk bald
einiger großen Pauptlinien gewahr werden, von
denen aus wir uns im übrigen zurechtsinden, und
die uns deutlich und anschaulich sagen, was wir
von dem Werk zu halten haben: so vor einem ein-
zelnen Gebäude dieser Art; so vor der Bebauungs-
weise einer Stadt, in der uns ein Gewirr von
kleinen Gaffen ohne gliedernde Hauptverkehrsadern
geradezu verzweifelt machen kann; und so auch vor
einem Gewände, vor dessen wirren Einzelheiten
wir uns ebenso unruhig im Geschmack fühlen, wie
wenn wir selber ein Aleid tragen sollen, das nicht
fest sitzt.
Architektur und Gewandkunst sind keine dar-
stellenden Aünste im Sinne der Malerei, Plastik und
Poesie, wohl aber sprechende Aünste im Sinne der
Musik. So wenig solche Aünste im wesentlichen
! etwas abbilden wollen, so intim können sie uns doch
in den Bau der leiblichen und geistigen Welt ein-
führen, als wahrhaft „kosmische" Aünste. Und
ebenso widernatürlich können sie uns davon weg-
führen, als „unnatürliche" Aünste. Wie so manche
schlechte Architektur von außen nach innen gebaut
ist, also daß, was drinnen leben soll, verkümmert,
ebenso ist eine schlechte Aleidung von außen nach
innen gebaut und läßt verkümmern, was sie schützen,
fördern und veranschaulichen soll. Der Mensch hat,
um sein Inneres entweder zu künden oder zu ver-
bergen, nicht nur feine Wortsprache, sondern auch
seine Däuser und seine Aleider.
200
EINLADUNG ZUR
AUSSTELLUNG!
DER ARBEITEN s
5\5. Einladungskarte von Gg. ijalmhuber, Stuttgart.
heute in den gewöhnlichen Straßen baut, in den
Musiksälen gewöhnlich vorträgt, in den Aleider-
geschäften gewöhnlich sich kleidet; das tut aber ein
Aleid, das die Gliederung des Aörpers nachzeichnet
und diese Gliederung in der dem Aleid möglichen
Weise näher und reich und mannigfaltig ausprägt,
das Rundes nicht als Eckiges, Einschnitte nicht als
Ausbuchtungen oder gleichmäßige Fortsetzungen,
Stellen der deutlicheren Offenbarungen der eigent-
lichen Menschen- und Persönlichkeitsnatur nicht als
unbedeutendere behandelt und den Anblick stets von
dem Gewichtigeren zum weniger Gewichtigen leitet;
kurz also, das Zeugnis gibt von der Beschaffenheit
des Leibes und des Geistes seines Trägers, das für
diesen ebenso ein paus ist, wie das Gebäude aus
Stein ein anderes Aleid seines Besitzers und seiner
inateriellen und ideellen Welt sein kann.
Wer etwas nicht recht zu sagen weiß, macht
viele Worte; wer nicht recht zu bauen weiß, macht
viele Ornamente; wer nicht recht eine Wohnung
auszustatten weiß und es doch tun will, häuft viel
„Schund" an; und wer nicht recht zu kleiden weiß,
überladet den Leib mit Firlefanz. So kommt auf
den Aörper eine ähnliche Unruhe wie auf die Fassade
eines städtischen Protzbaues oder in die Ecke eines
I Salons oder in die Linien eines gewöhnlichen
j Lampen- oder Leuchterkörpers oder auf den Rücken
eines im „Originalband" gekauften Buches. An
Stelle des Gefühls der Sicherheit, der durchsichtigen
Alarheit, der Einfachheit und hiermit der schlichten
| Größe tritt die Unruhe und Ungewißheit, die wir
von dem Anblick einer jeden Überladung her kennen.
Nicht bald eine verläßlichere Wirkung auf unseren
Geschmack, als wenn wir an einem Aunstwerk bald
einiger großen Pauptlinien gewahr werden, von
denen aus wir uns im übrigen zurechtsinden, und
die uns deutlich und anschaulich sagen, was wir
von dem Werk zu halten haben: so vor einem ein-
zelnen Gebäude dieser Art; so vor der Bebauungs-
weise einer Stadt, in der uns ein Gewirr von
kleinen Gaffen ohne gliedernde Hauptverkehrsadern
geradezu verzweifelt machen kann; und so auch vor
einem Gewände, vor dessen wirren Einzelheiten
wir uns ebenso unruhig im Geschmack fühlen, wie
wenn wir selber ein Aleid tragen sollen, das nicht
fest sitzt.
Architektur und Gewandkunst sind keine dar-
stellenden Aünste im Sinne der Malerei, Plastik und
Poesie, wohl aber sprechende Aünste im Sinne der
Musik. So wenig solche Aünste im wesentlichen
! etwas abbilden wollen, so intim können sie uns doch
in den Bau der leiblichen und geistigen Welt ein-
führen, als wahrhaft „kosmische" Aünste. Und
ebenso widernatürlich können sie uns davon weg-
führen, als „unnatürliche" Aünste. Wie so manche
schlechte Architektur von außen nach innen gebaut
ist, also daß, was drinnen leben soll, verkümmert,
ebenso ist eine schlechte Aleidung von außen nach
innen gebaut und läßt verkümmern, was sie schützen,
fördern und veranschaulichen soll. Der Mensch hat,
um sein Inneres entweder zu künden oder zu ver-
bergen, nicht nur feine Wortsprache, sondern auch
seine Däuser und seine Aleider.
200