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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Editor]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 56.1905-1906

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Jaumann, Anton: Technik und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.10293#0054

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Technik und Kesthetik.

Linie, die für die Trennung von selbst
sich darbietet, chatte das ursprüngliche
geometrische Gebilde eine Einbuchtung,
so ziehen wir die Scheidelinie natür-
lich dort, wo sich die gegenüberliegen-
den weiten am nächsten treten, an der
Landenge, die die zwei chälften der
Insel verband. Jede von diesen
halben Inseln hatte ihren eigenen
Schwerpunkt; wo deren Einflußbereiche
aneinander grenzten, da schneiden wir
mit dem Diamanten durch.

Nun zeigt es sich, daß wir da-
mit nichts anderes getan, als was auch
der Praktiker uns geraten hätte. Ab-
gesehen von der schwereren Bear-
beitung aller konkaven Partien, weiß
er, daß gerade an solchen Stellen das
Glas beim Transport und später am
ehesten Gefahr läuft zu brechen. Es
treten hier wieder chebelkräfte auf, die
schon bei geringerem Druck aus das
Fenster relativ stark sind und das Glas
durchdrücken.

Obgleich das Fenster durch den
musivischen Prozeß in lauter kleine
Teile ausgelöst wird, soll es doch nach
wie vor eine straffe Einheit bilden.

Die Einzelstücke sollen sich eng zu-
sammenschließen und wie unlösbar
aneinander hängen. Eine Lagerung
wie die der Granitwürfel auf unseren
Straßen wäre demnach minder emp-
fehlenswert. Die Pflastersteine ordnen
sich nämlich in Reihen, und die durch-
gehenden Linien zwischen den Reihen
zerreißen die Einheit der Fläche. Rkei-
den wir also schlanke, durchgehende
Linien, lassen wir die Glasstücke sich
übergreifen und ineinander festklammern! Das wird
dann auch der technischen Güte des Fensters zugute
kommen! Denn gerade an den von einem Rande
zum andern durchgehenden Bleilinien biegt sich das
Fenster unter dem Druck des Windes am leichtesten
aus und ein. Ganz ähnlich steht es mit der Ver-
teilung von leichteren und schwereren, von dünneren
und dickerne Gläsern. Die Statik des Fensters ver-
langt genau dasselbe wie die Ästhetik, da ja das
dünnere Glas auch fürs Auge leichter, luftiger,
schwächer erscheint.

69Z Brumieiilaube von x>e!er Birkenholz; Brunnenfigur — Sufcmna
von Karl Kiefer.

Wir erkannten die vollständige Übereinstimmung
der technischen und ästhetischen Forderungen beim
Gitter wie bei der Aunstverglasung. Es ist kaum
wahrscheinlich, daß dies die einzigen Fälle sind und
daß auf anderen Gebieten das Gegenteil zutrifft.
Wenn aber auch ein abschließendes Urteil noch nicht
möglich ist, so ahnen wir doch ein Gesetz, das für
die Zukunft unserer angewandten Aunst, für die
Durchdringung des Lebens mit Schönheit überhaupt
von größter Wichtigkeit wäre: das Gesetz, daß zwi-
schen berechtigten Ansprüchen der Praxis und denen
der Ästhetik ein Widerspruch nicht existieren kann,
daß beide im Grunde dasselbe wollen.

Anton Iaumann.
 
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