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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 6.1871

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Ihne, Ernst: Die Stoffwelt der neuesten Malerei, [5]: Studien im Pariser "Salon" von 1870
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https://doi.org/10.11588/diglit.5184#0051

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Bäume dem Seewmd ausgesetzt, unten im Thal ein Ge-
wäffer. Das Bild versetzt uns in die Stimmung, in der
wir uus befinden, wenn wir uns auf der Nordbahn
Boulogne und der Küste nähern mit der Aussicht auf eiue
stürmische Fahrt von 80 Minuten. Der jüngere Dau-
bigny, der in der Technik sehr geschickt in die Fußtapfen
seines Vaters tritt, regalirt uns mit Ansichten, die uns
ziemlich gleichgültig laffen, wie z. B. „Ou ksrws Toutuln
prss Lonüsur". Jch bezweifle nicht einen Augenblick,
daß die k'srws Toutuin genau so aussieht, wie sie Dau-
bigny Sohn gemalt hat, aber mit dem besten Willen ver-
mag ich mich nicht dafür zu interessiren.

Vollständig berechtigt und wirkungsvoll ist aber die
Wahl eines bestimmten Lokals, wenn es ein allgemein
bekanntes ist, und so sehen wir in der französischen Aus-
stellung unzählige Ansichten aus der Umgegend von
Paris. Jch will nur ein Beispiel geben. I. I.Laurens
bezeichnet eine einfacheLandschaft als „Lntrs Vsrsaillss st
Oksvrsuss". Die Landstraße zieht sich von vorne nach dem
Hintergrunde des Bildes hin. Auf der einen Seite erheben
sich graziöse Baumgruppen, auf der andern Seite ist nur
flaches Terrain. Es ist eine kaltgraue Abendstimmung.
Nach dem Horizonte zu, wo die Sonne schon unterge-
gangen ist, liegen schwere Wolkenstreifen. Eine winzige
Stafsage giebt erst dem Ganzen Charakter. Ein liebendes
Paar, das dem Beschauer den Rücken kehrt, wandelt auf
der Straße. Der junge Mann hält die Taille der jungen
Dame umschlungen. Sie scheinen sich nicht zu beeilen.
Sie haben sich wohl noch viel zu erzählen, uud sie kehren ja
erst mit dem letzten Zuge nach Paris zurück. Dahinter steckt
ein ganzerRoman von Feydeau oder Alexander Dumas kils.

Durch die Erhebung des subjektiven Elements der
Anschauung zur Hauptsache in der Landschaft wurde
eine ganz neue, reichen Gewinn versprechende, Ader
eröfsnet. An Stelle der hervorragenden Formen ge-
wann Dasjenige die höchste Bedeutung, was in der
nächsten Beziehung zum Menschen steht, und wir sehen
die Maler aus der Ferne heimkehren und nahe an den
Wohnungen der Menschen auf unsern täglichen Spazier-
gängen ihre liebsten Gegenstände finden. Jhren Höhe-
punkt wird diese Richtung dann erreicht haben, wenn es
gelingt, die moderne Architeklur, das vermittelnde Glied
zwischen dem Menschen und Wald und Feld, in demselben
Sinne zu behandeln. —

Aus der heillosen Systemkonfusion der modernen
Malerei schien in neuester Zeit den meisten Kritikern der
Realismus als Sieger hervorgegangen zu sein. Man
sah zu derselben Zeit alle möglichen Objekte als Gegen-
stand der Malerei, von den Göttern und Heroen des
klassischen Alterthumes bis zu den Kameliendamen vom
Pariser Boulevard, von den landschaftlichen Weltwundern >
Asiens und Amerika's bis zu den bescheidenen Bauern- !

höfen und Waldwegen der Normandie. Bei diesem bei-
spiellosen Reichthum an Stoffen kamen nun die Theoretiker
und namentlich die theoretisirenden Küustler in Versuchung
zu glauben, es seien überhaupt alle Objekte der Natur
gleich berechtigt als Gegenstände für die bildende Kunst,
und vas Schlagwort, welches die neue Richtung in der
Malerei bezeichnen sollte, war „Realismus". Sollte
nun dieser Realismus etwas Anderes bedeuten als die
Realität des Kolorits, durch welche sich die sogen. Realisten
allerdings auszeichneten, so war es Objektivität der Auf-
fassung, für die Malerei eine oontruäiotio iu uckfsoto.
Wollte und könnte man darin konsequent sein, so würde
das Gemälde zu einem bloßen Abklatsch der Natur, zu
einer Photographie in Farben.

Ohne auf das philosophische Urproblem von Realis-
mus und Jdealismus zurückzugehen, ist es nun einleuch-
tend, daß die intellektuelle Vorstellung von einem Objekte
keineswegs dem Spiegelbilde dieses Objektes entspricht. —
Das Gemälde ist ein mehr oder weniger geistig verarbeiteter
Eindruck. Und gerade der Modifikation, die das Bild auf
der Netzhant erfährt anf dem langen Wege „durch das
Gehirn, durch den Pinsel, auf die Leinwand" gerade
dieser Umbildung ist die Wirkung des Gemäldes zuzu-
schreiben. — Mit dem Gemälde ist zugleich das Subjekt
der Anschauung imxlioits gegeben, und dieses Subjekt soll
nicht nur das betrachtende Auge sein, sondern auch der
betrachtende Jntellekt. Ein Gemälde thut erst dann die
rechte Wirkung, wenn der betreffende Eindruck vom Be-
schauer ähnlich verarbeitet worden ist, wie vom Maler
selbst, so daß ihm die Gesammt-Gestalt des Bildes in
unbestimmten Umrissen schon vorschwebte. Der Eindruck
muß das Gegentheil von einer Ueberraschung sein.
Aehnlich wie die großen Meisterwerke der Lyrik uns so
vertraut, so natürlich, so selbstverständlich erscheinen, daß
wir uns fast wundern, daß wir sie nicht selber gedichtet
haben.

Aber es ist nur dann möglich, das Auge und den
Jntellekt des Beschauers für die des Malers zu substituiren,
wenn dieser einen Standpunkt einnimmt, der auch jenem
zugänglich ist.

Hierdurch werden nun dem Künstler in der Wahl
seiner Stoffe gewisse Schranken vorgeschrieben. Nicht
jedes Objekt der Außenwelt ist ein Gegenstand für die
Malerei und eine Auswahl wird nothwendig. Und das
Gesetz ist dasselbe für die Auswahl der Stoffe und für
die Behandlung jedes einzelnen Gegenstandes.

Es ist das unbewußte Beiseitelassen des Unwesent-
lichen, es ist das intellektuelle Abstraktionsgesetz, welches
in der Sprache den Gattungsbegrifs geschaffen hat und
in der Kunst den Typus.

Etwas ganz Analoges finden wir in der okularen
Perspektive, weswegen ich von einer geistigen Perspektive
habe sprechen können.. Wir finden bei der okularen wie
 
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