DER KUNSTGEWERBLICHE GESCHMACK IN ENGLAND.
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tiven der Spätrenaissance verziert worden, vielfach
dicht und schwer, aber konstruktiv und sachgemäß.
Jetzt brachten besonders einige schottische Archi-
tekten, voran B. J. Talbert, diesen Elisabethean und
Jacobean Style wieder zu Ehren; die Vorlagewerke
der siebziger Jahre sind reich an solchen Beispielen.
Allein den verfeinerten Ansprüchen des moder-
nen englischen Lebens konnten doch auch diese
derben Formen auf die Dauer nicht genügen. Die
vornehme Gesellschaft wollte bequeme und elegante
Möbel; beides fand sie nur unzulänglich bei den
Gotikern oder bei den Freunden der Spätrenaissance.
So kommt es, dass der eigentliche modern-englische
Geschmack sich erst ausgestaltete, seit hervorragende
Künstler ihren Landsleuten wieder die Augen für die
nationale englische Kunst des 18. Jahrhunderts
öffneten.
Im 17. und 18. Jahrhundert ist der englische
Geschmack bekanntlich ziemlich unabhängig von den
Stilbewegungen des Kontinents geblieben. Weder
das mächtige italienische Barock noch das beweg-
liche Bokoko hatten dort Boden gefunden. Die
englischen Architekten pflegten vielmehr einen stren-
gen, oft nüchternen Klassizismus im Anschluss an
Palladio und Vignola; in der Ausstattung des Wohn-
hauses bewahrte man daneben lange die malerische
Art des Mittelalters. Von den Neuerungen, welche
aus dem Auslande herüberdrangen, benutzte der prak-
tische Engländer wesentlich das, was der Bequem-
lichkeit, dem Komfort diente: von den holländisch-
französischen Möbeln, welche der Oranier Wilhelm III.
und seine „Queen Anne" mitbrachten, lernte man
die Polsterung, vom Mobiliar des Rokoko die schmieg-
same Biegung; aber die Formen der fremden Stile
übersetzte man ganz frei für den heimischen Ge-
schmack mit oft sehr willkürlichem Eklektizismus,
der uns z. B. in den wunderlichen Gebilden des
Chippendale so fremdartig anmutet. Auch das fran-
zösische Louis-Seize ward nicht direkt kopirt; aber
gleichzeitig, ja teilweise schon vor den Franzosen
gingen die Engländer in der Dekoration und in den
Möbeln zu den knappen, mageren Formen über,
welche oft dem späteren Empirestil an Nüchtern-
heit ähneln. Man kann sagen, dass der englische
Geschmack sich auch im 18. Jahrhundert treu ge-
blieben war.
Für die heutige Praxis bot diese Formenwelt
manche Vorzüge. Das Mobiliar war bequemer als
im Mittelalter, die Dekoration mannigfach bereichert,
die ganze Wohnung den modernen Bedürfnissen
mehr angepasst; statt des eintönigen Eichenholzes
die reizenden Kombinationen der bunten Furnier-
hölzer; statt der einfachen Farben der Gotik eine
Fülle zarter Tonstimmungen. Es war begreiflich,
dass die englische Reform sich auch diese Vorzüge
nutzbar zu machen suchte. Es ist aber charakte-
ristisch für England im Gegensatze zu unserer deut-
schen Entwickelung, dass man sich nicht in erster
Linie darauf verlegte, die Arbeiten des 18. Jahr-
hunderts nachzumachen, wie es das betriebsame, aber
oft schlecht geleitete deutsche Kunstgewerbe so oft
gethan hat. Vielmehr standen dort bedeutende
Künstler an der Spitze, welche die neugotische Tradi-
tion nicht beseitigen, sondern erweitern und bereichern
wollten und daher gerade diejenigen Motive auswähl-
ten, die zu der bisherigen, erfolgreichen Richtung
passten. Man wollte keinen Sprung; man gab nicht
die alberne Losung: hie Rokoko, hie Gotik oder Re-
naissance, wie es bei uns wohl geschehen ist; man
plagte sich nicht, die eben eroberte Eigenart in fri-
voler Neuerungssucht wieder abzustreifen. Wir wer-
den später am Möbel und Gerät im einzelnen nach-
zuweisen suchen, wie diese Bereicherung sich voll-
zogen hat.
Gleichzeitig lernte man auch, das gotische Or-
nament, das stilisirte Pflanzenwerk, umzugestalten.
Japan ward den europäischen Völkern bekannt; auf
der Pariser Ausstellung von 1878 feierte das japa-
nische Kunstgewerbe seine größten Triumphe. Keine
Nation hat davon ernsthafter gelernt als die Eng-
länder. Die Naturliebe der Japaner entsprach der
Blumenfreude, die in England so weit verbreitet ist,
und durch das gotische Ornament war man an das
Studium der heimischen Pflanze gewöhnt.
Aber wie der Japaner die Blume in ihrer natür-
lichen Bewegung und Mannigfaltigkeit auffasst und
zum Ornament umformt, so genügt es jetzt auch dem
Engländer nicht mehr, nur die abstrakten, platt ge-
pressten Grundtypen von Blüte und Blatt geometrisch
zusammenzustellen; man suchte der Dekoration alle
Reize der lebenden Natur dienstbar zu machen. Vor
allem studirte man auch das eigentliche Flächen-
ornament der Japaner und zog daraus großen Nutzen
für den Tapeten- und Zeugdruck.
Die Hauptsache aber war, dass alle diese Neue-
rungen von originellen Künstlern ausgingen, und dass
noch heute der beste Teil des englischen Kunstge-
werbes unmittelbar von den Künstlern geleitet wird.
Voran steht die Schule der Präraffaeliten, eine Gruppe
von Malern, welche ihre idealistischen Erfindungen
in Form und Farben nach den florentischen Vor-
gängern Raffaels, nach Botticelli und seinen Zeitge-
15*
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tiven der Spätrenaissance verziert worden, vielfach
dicht und schwer, aber konstruktiv und sachgemäß.
Jetzt brachten besonders einige schottische Archi-
tekten, voran B. J. Talbert, diesen Elisabethean und
Jacobean Style wieder zu Ehren; die Vorlagewerke
der siebziger Jahre sind reich an solchen Beispielen.
Allein den verfeinerten Ansprüchen des moder-
nen englischen Lebens konnten doch auch diese
derben Formen auf die Dauer nicht genügen. Die
vornehme Gesellschaft wollte bequeme und elegante
Möbel; beides fand sie nur unzulänglich bei den
Gotikern oder bei den Freunden der Spätrenaissance.
So kommt es, dass der eigentliche modern-englische
Geschmack sich erst ausgestaltete, seit hervorragende
Künstler ihren Landsleuten wieder die Augen für die
nationale englische Kunst des 18. Jahrhunderts
öffneten.
Im 17. und 18. Jahrhundert ist der englische
Geschmack bekanntlich ziemlich unabhängig von den
Stilbewegungen des Kontinents geblieben. Weder
das mächtige italienische Barock noch das beweg-
liche Bokoko hatten dort Boden gefunden. Die
englischen Architekten pflegten vielmehr einen stren-
gen, oft nüchternen Klassizismus im Anschluss an
Palladio und Vignola; in der Ausstattung des Wohn-
hauses bewahrte man daneben lange die malerische
Art des Mittelalters. Von den Neuerungen, welche
aus dem Auslande herüberdrangen, benutzte der prak-
tische Engländer wesentlich das, was der Bequem-
lichkeit, dem Komfort diente: von den holländisch-
französischen Möbeln, welche der Oranier Wilhelm III.
und seine „Queen Anne" mitbrachten, lernte man
die Polsterung, vom Mobiliar des Rokoko die schmieg-
same Biegung; aber die Formen der fremden Stile
übersetzte man ganz frei für den heimischen Ge-
schmack mit oft sehr willkürlichem Eklektizismus,
der uns z. B. in den wunderlichen Gebilden des
Chippendale so fremdartig anmutet. Auch das fran-
zösische Louis-Seize ward nicht direkt kopirt; aber
gleichzeitig, ja teilweise schon vor den Franzosen
gingen die Engländer in der Dekoration und in den
Möbeln zu den knappen, mageren Formen über,
welche oft dem späteren Empirestil an Nüchtern-
heit ähneln. Man kann sagen, dass der englische
Geschmack sich auch im 18. Jahrhundert treu ge-
blieben war.
Für die heutige Praxis bot diese Formenwelt
manche Vorzüge. Das Mobiliar war bequemer als
im Mittelalter, die Dekoration mannigfach bereichert,
die ganze Wohnung den modernen Bedürfnissen
mehr angepasst; statt des eintönigen Eichenholzes
die reizenden Kombinationen der bunten Furnier-
hölzer; statt der einfachen Farben der Gotik eine
Fülle zarter Tonstimmungen. Es war begreiflich,
dass die englische Reform sich auch diese Vorzüge
nutzbar zu machen suchte. Es ist aber charakte-
ristisch für England im Gegensatze zu unserer deut-
schen Entwickelung, dass man sich nicht in erster
Linie darauf verlegte, die Arbeiten des 18. Jahr-
hunderts nachzumachen, wie es das betriebsame, aber
oft schlecht geleitete deutsche Kunstgewerbe so oft
gethan hat. Vielmehr standen dort bedeutende
Künstler an der Spitze, welche die neugotische Tradi-
tion nicht beseitigen, sondern erweitern und bereichern
wollten und daher gerade diejenigen Motive auswähl-
ten, die zu der bisherigen, erfolgreichen Richtung
passten. Man wollte keinen Sprung; man gab nicht
die alberne Losung: hie Rokoko, hie Gotik oder Re-
naissance, wie es bei uns wohl geschehen ist; man
plagte sich nicht, die eben eroberte Eigenart in fri-
voler Neuerungssucht wieder abzustreifen. Wir wer-
den später am Möbel und Gerät im einzelnen nach-
zuweisen suchen, wie diese Bereicherung sich voll-
zogen hat.
Gleichzeitig lernte man auch, das gotische Or-
nament, das stilisirte Pflanzenwerk, umzugestalten.
Japan ward den europäischen Völkern bekannt; auf
der Pariser Ausstellung von 1878 feierte das japa-
nische Kunstgewerbe seine größten Triumphe. Keine
Nation hat davon ernsthafter gelernt als die Eng-
länder. Die Naturliebe der Japaner entsprach der
Blumenfreude, die in England so weit verbreitet ist,
und durch das gotische Ornament war man an das
Studium der heimischen Pflanze gewöhnt.
Aber wie der Japaner die Blume in ihrer natür-
lichen Bewegung und Mannigfaltigkeit auffasst und
zum Ornament umformt, so genügt es jetzt auch dem
Engländer nicht mehr, nur die abstrakten, platt ge-
pressten Grundtypen von Blüte und Blatt geometrisch
zusammenzustellen; man suchte der Dekoration alle
Reize der lebenden Natur dienstbar zu machen. Vor
allem studirte man auch das eigentliche Flächen-
ornament der Japaner und zog daraus großen Nutzen
für den Tapeten- und Zeugdruck.
Die Hauptsache aber war, dass alle diese Neue-
rungen von originellen Künstlern ausgingen, und dass
noch heute der beste Teil des englischen Kunstge-
werbes unmittelbar von den Künstlern geleitet wird.
Voran steht die Schule der Präraffaeliten, eine Gruppe
von Malern, welche ihre idealistischen Erfindungen
in Form und Farben nach den florentischen Vor-
gängern Raffaels, nach Botticelli und seinen Zeitge-
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