4. Aufsteiger und Aussteiger: Devianz, Distanzierung und soziale Kontrolle
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Zeitgenossen mußten hierfür gleich auf mehreren Ebenen außeralltägliche Kräfte
am Werke sein. Nicht nur vom direkten Eingreifen Gottes wußten sie zu berichten,
auch Landgraf Ludwig geriet dank seiner einzigartigen Nachsicht in den Ruf eines
Heiligen46. Sein Bruder und Nachfolger, Heinrich Raspe, war indes von gänzlich
anderem Format. Nach dem frühen Tod des toleranten Ehemanns 1227 suchte er
das fromme Gebaren Elisabeths rigoros in die Bahnen adeliger Etikette zurückzu-
lenken. Am Ende stand ein völliges Scheitern aller Integrationsversuche. Elisabeth
verließ - ob durch gewaltsamen Druck oder aus freien Stücken bleibt unklar - die
Wartburg, um fortan ein entsagungsvolles Leben als Bettlerin unter den Bettlern
Eisenachs zu führen47. Ihre radikale Übertretung aller Akzeptanzgrenzen des welt-
lichen Adels hatte diesen letzten Schritt unvermeidlich werden lassen.
Doch blieb Elisabeths Handeln nicht ohne ein positives Echo. Dem Auszug der
Königstochter aus der landgräflichen Burg folgte kein totaler Ausschluß aus allen
Bindungen mittelalterlicher Gesellschaft. Längst stand mit den sich formierenden
Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner auch im Reich ein Kollektiv bereit,
das der frommen Witwe Aufnahme und erneute Anerkennung gewährte. Unter
seiner Ägide vollzog sich schließlich die wundersame Metamorphose Elisabeths,
in deren Folge aus der verfemten adeligen Aussteigerin die hingebungsvolle Hei-
lige werden konnte48. Als weithin sichtbares Signum ihrer weit ver achtenden
Lebensweise empfing die Witwe einen schlichten grauen Habit, ein »einfaches und
abgenutztes Kleid«, wie es stilbildend für zahlreiche Frauengemeinschaften in der
Nachfolge des Franziskus wurde49. Sogar in höchsten Kreisen weltlicher Macht-
46 Bereits die um 1227/8 entstandene Gesta Ludowici enthielt rühmende Berichte über den from-
men Landgrafen, vgl. Helmut Lomnitzer, Bertholdus Capellanus, in: Die deutsche Literatur des
Mittelalter. Verfasserlexikon, Bd. 1 (1978), S. 805-807, sie ist in mehreren Redaktionsstufen so-
wohl in die Reinhardsbrunner Chronik als auch in die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda
eingegangen, vgl. Matthias Werner, Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel
spätmittelalterlicher Hagiographie, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im
Spätmittelalter, hrsg. von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 523-
541; Stefan Tebruck, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterli-
che Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte 4),
Frankfurt a.M. 2001, S. 19, 34f. Zur späteren Rezeption der Gesta vgl. Das Leben des heiligen Lud-
wig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der heiligen Elisabeth. Nach der lateinischen Urschrift
übersetzt von Friedrich Ködiz von Salfeld, hrsg. von Heinrich Rückert, Leipzig 1851.
47 Vgl. Dinzelbacher, Elisabeth, S. 55ff.; Ortrud Reber, Elisabeth von Thüringen. Landgräfin und
Heilige, Regensburg 2006, S. 117ff.; Mathias Kälble, Reichsfürstin und Landesherrin. Die hei-
lige Elisabeth und die Landgrafschaft Thüringen, in: Elisabeth von Thüringen. Eine europä-
ische Heilige, Bd. 2: Aufsätze, hrsg. von Dieter Blume/Matthias Werner, Petersberg 2007, S. 77-
92, S. 86f.
48 Vgl. dazu die wegweisende Studie von Matthias Werner, Elisabeth von Thüringen, jeweils mit
Hinweisen auf die übrigen Aufsätze und Katalogbeiträge. Eingängig erscheint die These der
anfänglichen Zurückhaltung des Minderbrüderordens gegenüber der am >ursprünglichen<
franziskanischen Ideal orientierten Heiligen, die freilich von Seiten der Dominikaner und des
deutschen Ordens bedeutende Förderung erhielt.
49 Libellus, S. 15: beata Elysabeth professa fuit indues griseam tunicam de manu magistri Conradi de Mar-
burch. Vgl. Reber, Elisabeth von Thüringen, S. 145ff.; Werner, Elisabeth, S. 122, sowie 133ff. mit
Anm. 170, 174, 196, 199, jeweils unter Berücksichtigung des älteren Forschungsstandes. Die
Frage, ob das graue Gewand als Zeichen franziskanischer Ordenszugehörigkeit oder vor allem
als Symbol von Demut und Selbsterniedrigung zu deuten sei, läßt sich aus den zeitgenössischen
Quellen nicht letztgültig beantworten. Entscheidend ist jedoch, daß der Habit der Heiligen
schon bald nach ihrem Tod in einen franziskanischen Kontext gerückt wurde, vgl. etwa Vita
sanctae Elisabeth, Landgraviae Thuringiae auctore anonymo, hrsg. von Diodorus Henniges, in:
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Zeitgenossen mußten hierfür gleich auf mehreren Ebenen außeralltägliche Kräfte
am Werke sein. Nicht nur vom direkten Eingreifen Gottes wußten sie zu berichten,
auch Landgraf Ludwig geriet dank seiner einzigartigen Nachsicht in den Ruf eines
Heiligen46. Sein Bruder und Nachfolger, Heinrich Raspe, war indes von gänzlich
anderem Format. Nach dem frühen Tod des toleranten Ehemanns 1227 suchte er
das fromme Gebaren Elisabeths rigoros in die Bahnen adeliger Etikette zurückzu-
lenken. Am Ende stand ein völliges Scheitern aller Integrationsversuche. Elisabeth
verließ - ob durch gewaltsamen Druck oder aus freien Stücken bleibt unklar - die
Wartburg, um fortan ein entsagungsvolles Leben als Bettlerin unter den Bettlern
Eisenachs zu führen47. Ihre radikale Übertretung aller Akzeptanzgrenzen des welt-
lichen Adels hatte diesen letzten Schritt unvermeidlich werden lassen.
Doch blieb Elisabeths Handeln nicht ohne ein positives Echo. Dem Auszug der
Königstochter aus der landgräflichen Burg folgte kein totaler Ausschluß aus allen
Bindungen mittelalterlicher Gesellschaft. Längst stand mit den sich formierenden
Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner auch im Reich ein Kollektiv bereit,
das der frommen Witwe Aufnahme und erneute Anerkennung gewährte. Unter
seiner Ägide vollzog sich schließlich die wundersame Metamorphose Elisabeths,
in deren Folge aus der verfemten adeligen Aussteigerin die hingebungsvolle Hei-
lige werden konnte48. Als weithin sichtbares Signum ihrer weit ver achtenden
Lebensweise empfing die Witwe einen schlichten grauen Habit, ein »einfaches und
abgenutztes Kleid«, wie es stilbildend für zahlreiche Frauengemeinschaften in der
Nachfolge des Franziskus wurde49. Sogar in höchsten Kreisen weltlicher Macht-
46 Bereits die um 1227/8 entstandene Gesta Ludowici enthielt rühmende Berichte über den from-
men Landgrafen, vgl. Helmut Lomnitzer, Bertholdus Capellanus, in: Die deutsche Literatur des
Mittelalter. Verfasserlexikon, Bd. 1 (1978), S. 805-807, sie ist in mehreren Redaktionsstufen so-
wohl in die Reinhardsbrunner Chronik als auch in die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda
eingegangen, vgl. Matthias Werner, Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel
spätmittelalterlicher Hagiographie, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im
Spätmittelalter, hrsg. von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 523-
541; Stefan Tebruck, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterli-
che Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte 4),
Frankfurt a.M. 2001, S. 19, 34f. Zur späteren Rezeption der Gesta vgl. Das Leben des heiligen Lud-
wig, Landgrafen in Thüringen, Gemahls der heiligen Elisabeth. Nach der lateinischen Urschrift
übersetzt von Friedrich Ködiz von Salfeld, hrsg. von Heinrich Rückert, Leipzig 1851.
47 Vgl. Dinzelbacher, Elisabeth, S. 55ff.; Ortrud Reber, Elisabeth von Thüringen. Landgräfin und
Heilige, Regensburg 2006, S. 117ff.; Mathias Kälble, Reichsfürstin und Landesherrin. Die hei-
lige Elisabeth und die Landgrafschaft Thüringen, in: Elisabeth von Thüringen. Eine europä-
ische Heilige, Bd. 2: Aufsätze, hrsg. von Dieter Blume/Matthias Werner, Petersberg 2007, S. 77-
92, S. 86f.
48 Vgl. dazu die wegweisende Studie von Matthias Werner, Elisabeth von Thüringen, jeweils mit
Hinweisen auf die übrigen Aufsätze und Katalogbeiträge. Eingängig erscheint die These der
anfänglichen Zurückhaltung des Minderbrüderordens gegenüber der am >ursprünglichen<
franziskanischen Ideal orientierten Heiligen, die freilich von Seiten der Dominikaner und des
deutschen Ordens bedeutende Förderung erhielt.
49 Libellus, S. 15: beata Elysabeth professa fuit indues griseam tunicam de manu magistri Conradi de Mar-
burch. Vgl. Reber, Elisabeth von Thüringen, S. 145ff.; Werner, Elisabeth, S. 122, sowie 133ff. mit
Anm. 170, 174, 196, 199, jeweils unter Berücksichtigung des älteren Forschungsstandes. Die
Frage, ob das graue Gewand als Zeichen franziskanischer Ordenszugehörigkeit oder vor allem
als Symbol von Demut und Selbsterniedrigung zu deuten sei, läßt sich aus den zeitgenössischen
Quellen nicht letztgültig beantworten. Entscheidend ist jedoch, daß der Habit der Heiligen
schon bald nach ihrem Tod in einen franziskanischen Kontext gerückt wurde, vgl. etwa Vita
sanctae Elisabeth, Landgraviae Thuringiae auctore anonymo, hrsg. von Diodorus Henniges, in: