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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0183

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2. Die Spielregeln der Identität

183

büßenden Herrscher selbst in den Mittelpunkt der Handlungsabläufe: Ludwig
wirft sich auf ein am Boden liegendes härenes Gewand, bekennt seine Vergehen
vor Gott und den versammelten Großen, legt schließlich seine Waffen eigenhändig
auf dem Altar nieder und entkleidet sich ohne fremde Hilfe, um aus den Händen
der Bischöfe das Büßergewand zu empfangen128. Ein solches Zeremoniell sei dazu
angelegt, so hält es das Abschlußprotokoll der beteiligten Kirchenfürsten nach-
drücklich fest, »daß nach einer so großen und bedeutenden Bußübung niemand je wieder
zu weltlichem Wirken zurückkehren möge«129.
Die altbewährten Formen der Kirchenbuße mögen im Fall Ludwigs des From-
men lediglich legitimierende Fassade gewesen sein, damit - wie eine spätere Stimme
zutreffend vermutet - aus Gründen politischer Raison »dem Volk plausibel gemacht
werden könne, daß er verdientermaßen vom Königtum vertrieben worden sei«130. In Szene
gesetzt wurde coram publico tatsächlich keine Herrscherabsetzung, sondern eine auf
Gottes Geheiß und nach dem Rat der Geistlichkeit vollzogene Selbstdevestitur. Der
Kaiser legte scheinbar freiwillig die Insignien seiner monarchischen Stellung ab
und nahm in Kleidung und Habitus die Identität eines weltflüchtigen Büßers an.
Die Synodalteilnehmer von Compiègne konnten sich auf diese Weise doppelt gegen
drohende Schuldvorwürfe wappnen: Einerseits hatten sie lediglich einen höheren
Willen exekutiert, anderseits den konkreten Vollzug des göttlichen Urteils geschickt
an den Poenitenten selbst delegiert131. Tränen, Proskynese und Kleiderwechsel
signalisierten nach außen hin deutlich, daß sich der Karolinger mit seiner neuen
Rolle tatsächlich identifizierte132. Indem der Kaiser vorgeblich zum eigenen Besten
handelte, konnte der Thronverzicht allein schon mit Rücksicht auf das ewige Heil
Ludwigs als politisch irreversibel gelten.
Die vorgebliche politische Passivität der Bischöfe erwies sich - die Restitution
Ludwigs und sein späteres Vorgehen gegen Ebo von Reims bezeugen es - als Vor-
kehrung gegen politische Wechselfälle letztlich als unzureichend. Die grund-
legende Forderung des Jahres 833, das moralische Versagen eines Herrschers durch
Entzug des Rittergürtels und Entkleidung aller weltlichen Würden zu sanktionie-
ren, blieb allerdings im politischen Denken virulent und wurde gerade in spät-

128 Ebd. S. 19 (MGH Cap. 2, Nr. 197, S. 55): Igitur pro his uel in his omnibus, quae supra memorata sunt,
reum se coram Deo et coram sacerdotibus uel omni populo esse cum lachrymis confessus et in cunctis se
deliquisse protestatus est, et poenitentiam publicani expetiit (...) ac deinde cingulum militiae deposuit, et
super altare collocauit, et habitu seculi se exuens habitum poenitentis per impositionem manuum episco-
porum suscepit. Vgl. ähnlich Agobard von Lyon, Cartula de poenitentia ab imperatore acta a. 833,
MGH Cap. 2, Nr. 198, S. 56f.: pervenit in ecclesiam coram cetu fidelium ante altare et sepulcra sanctorum
et prostratus super cilicium bis terque quaterque confessus in omnibus clara voce cum habundanti effu-
sione lacrimarum, deposita arma manu propria et ad crepidinem altaris proiecta suscepit mente com-
puncta poenitentiam publicani per manuum episcopalium impositionem cum psalmis et orationibus.
129 Booker, The public penance, S. 19 (MGH Cap. 2, Nr. 197, S. 55): ut, post tantam talemque poeniten-
tiam, nemo ultra ad militiam secularem redeat.
130 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860-874, hrsg. von Wilfried Hartmann, MGH Con-
cilia 4, Hannover 1998, Nr. 24, S. 233: ut populo credibile posset fieri, quod merito fuerat a regno expul-
sus, in eum quaedam crimina conficta fuerunt.
131 Boshof, Ludwig, S. 202, führt die Beteiligung des Kaisers auf den »moralischen Druck« zurück,
dem der Kaiser nicht mehr gewachsen gewesen sei. Althoff, Macht der Rituale, S. 59, stellt die
Trage der Lreiwilligkeit hintan, betont jedoch deren zentrale Lunktion für die Verbindlichkeit
der Handlungen.
132 Becher, >Cum lacrimis et gemitru, S. 37, bezeichnet die Hervorhebung der Lreiwilligkeit anzei-
genden Tränen durch die Bischöfe als »Teil ihrer Rechtfertigungsstrategie«.
 
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