Eine lothringische Kunstschule um die Wende des XII. Jahrhunderts.
. Von Otto Homburger.
Im Freiburger Augustinermuseum lenkt ein mit meisterhaften Miniaturen verziertes Einzelblatt
die Aufmerksamkeit auf sich, das vor etwa zehn Jahren mit zwei zugehörigen, von Schrift bedeckten
Blättern aus Einbänden des dortigen Stadtarchivs herausgelöst und von dem Finder, Hermann Flamm,
veröffentlicht worden ist1 unter dem Titel: »Eine Miniatur aus dem Kreise der Herrad von Landsberg.«
Der Nachweis, daß wir hier ein Original vor uns haben im Schulcharakter des »Hortus Deliciarum«, des
um 1175 niedergeschriebenen, mit zahllosen Miniaturen reichverzierten kompilatorischen Werkes der ge-
lehrten Äbtissin von Hohenburg am Odilienberg (f 1195), ist auf Grund stilistischer Ähnlichkeiten erbracht
worden; das eine Blatt ist imstande, uns einen Begriff zu geben vom Stil der durch Brand vernichteten
Bilder des Hortus, zugleich ermöglicht es, die Nachzeichnungen, die von Keller und Straub in so ver-
dienstlicher Weise gesammelt und veröffentlicht worden sind, zu beurteilen2 (Abb. 1 und 4). Auch die
Freiburger Miniatur ist nur der zufällig erhaltene Rest eines Kodex, den einst nahezu 80 Zeichnungen
schmückten: was auf ihnen dargestellt war, wird auf der Rückseite unseres Blattes aufgezählt, und Flamm
hat daraus, wie aus den vorhandenen Bruchstücken des Textes, gefolgert, daß es sich nicht um ein litur-
gisches Buch einer der bekannten Kategorien handle, und den (verlorenen) Kodex als »Betrachtungsbuch
oder theologische Enzyklopädie« bezeichnet. Er kommt ferner zu dem Schluß, daß die Handschrift für
oder in einem Kloster der regulierten Chorherren vom Lateran geschrieben worden ist, da der Text des
dritten Blattes ebenso wie die zu dem oberen Bild zu ergänzende Zachäusperikope Homilien zum Kirch-
weihfest sind und dieses bei jener Kongregation auf den 9. November, das Fest des hl. Theodorus fällt,
der auf der unteren Hälfte des Blattes mit seinem Gefährten, einem zweiten Reiterheiligen, dargestellt
ist3 * * * * 8. Es wird ferner gegen Schluß der eingehenden, Liturgie, Schrift und Bild in gleicher Weise heran-
ziehenden Untersuchung auf die Bedeutung hingewiesen, die das Chorherrenstift der Augustiner zu Marbach
im Oberelsaß im 12. Jahrhundert ausgeübt hat und daran erinnert, daß seit 1152 die Augustinerregel im
Kloster Hohenburg eingeführt war, daß auch das 1181 am Fuß des Odilienberges gestiftete Kloster Trutten-
hausen von der Gründerin, Herrad von Landsberg, dieser Kongregation übergeben worden ist. Wir werden
auf diese Frage zurückkommen, zunächst aber erscheint es wichtig, zwei Miniaturen einer andern Bilder-
handschrift des ausgehenden 12. Jahrhunderts zum Vergleich heranzuziehen, des Speyerer Evangelistars
der Landesbibliothek zu Karlsruhe (Cod. Bruchsal I).
Auf Fol. 17r dieses Kodex ist in der oberen Hälfte eines ganzseitigen Bildes die Auferweckung
des Lazarus dargestellt (Abb. 2). Von links schreitet Christus heran, in der Linken eine Schriftrolle haltend,
1 Repertorium für Kunstwissenschaft XXXVII, 1915, S. 125 ff.
3 Ch. M. Engelhardt, Herrad von Landsberg, Stuttgart und Tübingen 1818. — Herrade de Landsberg. Hortus
Deliciarum. Publie aux Frais de la Societe pour la Conservation des Monuments Historiques d’Alsace. Texte . . . par le
chanoine A Straub et le chanoine G. Keller, zitiert: Str. K. 1879—1899. 2 Bde. — Charles Schmidt, Herrade de Lands-
berg, o. J. (2. Aufl. 1897). —■ A. Marignan, Etüde sur le manuscrit de l’Hortus deliciarum. Studien zur deutschen Kunst-
geschichte 125, 1910. — Vgl. auch Lasteyrie in Gazette archeologique IX, 1884, S. 57; X, 1885, S. 17 ff., 145 ff.
8 A. a. O. S. 135 ff., 155.
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. Von Otto Homburger.
Im Freiburger Augustinermuseum lenkt ein mit meisterhaften Miniaturen verziertes Einzelblatt
die Aufmerksamkeit auf sich, das vor etwa zehn Jahren mit zwei zugehörigen, von Schrift bedeckten
Blättern aus Einbänden des dortigen Stadtarchivs herausgelöst und von dem Finder, Hermann Flamm,
veröffentlicht worden ist1 unter dem Titel: »Eine Miniatur aus dem Kreise der Herrad von Landsberg.«
Der Nachweis, daß wir hier ein Original vor uns haben im Schulcharakter des »Hortus Deliciarum«, des
um 1175 niedergeschriebenen, mit zahllosen Miniaturen reichverzierten kompilatorischen Werkes der ge-
lehrten Äbtissin von Hohenburg am Odilienberg (f 1195), ist auf Grund stilistischer Ähnlichkeiten erbracht
worden; das eine Blatt ist imstande, uns einen Begriff zu geben vom Stil der durch Brand vernichteten
Bilder des Hortus, zugleich ermöglicht es, die Nachzeichnungen, die von Keller und Straub in so ver-
dienstlicher Weise gesammelt und veröffentlicht worden sind, zu beurteilen2 (Abb. 1 und 4). Auch die
Freiburger Miniatur ist nur der zufällig erhaltene Rest eines Kodex, den einst nahezu 80 Zeichnungen
schmückten: was auf ihnen dargestellt war, wird auf der Rückseite unseres Blattes aufgezählt, und Flamm
hat daraus, wie aus den vorhandenen Bruchstücken des Textes, gefolgert, daß es sich nicht um ein litur-
gisches Buch einer der bekannten Kategorien handle, und den (verlorenen) Kodex als »Betrachtungsbuch
oder theologische Enzyklopädie« bezeichnet. Er kommt ferner zu dem Schluß, daß die Handschrift für
oder in einem Kloster der regulierten Chorherren vom Lateran geschrieben worden ist, da der Text des
dritten Blattes ebenso wie die zu dem oberen Bild zu ergänzende Zachäusperikope Homilien zum Kirch-
weihfest sind und dieses bei jener Kongregation auf den 9. November, das Fest des hl. Theodorus fällt,
der auf der unteren Hälfte des Blattes mit seinem Gefährten, einem zweiten Reiterheiligen, dargestellt
ist3 * * * * 8. Es wird ferner gegen Schluß der eingehenden, Liturgie, Schrift und Bild in gleicher Weise heran-
ziehenden Untersuchung auf die Bedeutung hingewiesen, die das Chorherrenstift der Augustiner zu Marbach
im Oberelsaß im 12. Jahrhundert ausgeübt hat und daran erinnert, daß seit 1152 die Augustinerregel im
Kloster Hohenburg eingeführt war, daß auch das 1181 am Fuß des Odilienberges gestiftete Kloster Trutten-
hausen von der Gründerin, Herrad von Landsberg, dieser Kongregation übergeben worden ist. Wir werden
auf diese Frage zurückkommen, zunächst aber erscheint es wichtig, zwei Miniaturen einer andern Bilder-
handschrift des ausgehenden 12. Jahrhunderts zum Vergleich heranzuziehen, des Speyerer Evangelistars
der Landesbibliothek zu Karlsruhe (Cod. Bruchsal I).
Auf Fol. 17r dieses Kodex ist in der oberen Hälfte eines ganzseitigen Bildes die Auferweckung
des Lazarus dargestellt (Abb. 2). Von links schreitet Christus heran, in der Linken eine Schriftrolle haltend,
1 Repertorium für Kunstwissenschaft XXXVII, 1915, S. 125 ff.
3 Ch. M. Engelhardt, Herrad von Landsberg, Stuttgart und Tübingen 1818. — Herrade de Landsberg. Hortus
Deliciarum. Publie aux Frais de la Societe pour la Conservation des Monuments Historiques d’Alsace. Texte . . . par le
chanoine A Straub et le chanoine G. Keller, zitiert: Str. K. 1879—1899. 2 Bde. — Charles Schmidt, Herrade de Lands-
berg, o. J. (2. Aufl. 1897). —■ A. Marignan, Etüde sur le manuscrit de l’Hortus deliciarum. Studien zur deutschen Kunst-
geschichte 125, 1910. — Vgl. auch Lasteyrie in Gazette archeologique IX, 1884, S. 57; X, 1885, S. 17 ff., 145 ff.
8 A. a. O. S. 135 ff., 155.
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