Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Oberrheinische Kunst — 1.1925/​1926

DOI Artikel:
Homburger, Otto: Eine lothringische Kunstschule um die Wende des XII. Jahrhunderts
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.54484#0024

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Otto Homburger: Eine lothringische Kunstschule
figuren des Kölner Dreikönigschreins, die um oder nach 1200 entstanden und ebenfalls als Arbeit des
Nikolaus von Verdun angesprochen worden sind1, die gleiche Beherrschung der körperlichen Funktion,
die wundervolle Rythmik der dichtgelegten, in weitausholenden Kurven schwingenden Falten und eine
bis dahin nicht bekannte Schärfe und Mannigfaltigkeit des Charakterisierens. Als einen altertümlicheren
Verwandten dieser Gestalten möchte ich die Johannesfigur (Abb. 15) des Speyerer Evangelistars ansehen,
die, als einzige Leistung eines vielleicht von auswärts hinzugezogenen Künstlers, alle anderen Miniaturen
an künstlerischer Qualität übertrifft; insbesondere erinnert die Durchmodellierung der Stirn an die ent-
sprechenden Furchen auf den Gesichtern der getriebenen Figuren am Kölner Schrein. In wesentlich
engeren Umkreis der besprochenen Malschule werden wir zurückgeführt durch die vier sitzenden Propheten-
figuren, die im Ashmolean Museum zu Oxford aufbewahrt werden und die H. P. Mitchell als Bronzen des
Nikolaus von Verdun vor wenigen Jahren veröffentlicht hat2 (Abb. 22a—d). Stärker noch als bei dem Werk
des Zeichners fällt auf, wie Faltengräte und -Schluchten, die von den enggelegten parallellaufenden Strähnen
gebildet werden, wechseln mit glatten, durch das Vordrücken von Knie und Schienbein entstehenden
Flächen, stärker noch äußert sich das Gefühl dieser Künstlergruppe für das Organische des Körpers, für
die Funktion der Gelenke, die durch Drehungen und Wendungen der heftig gestikulierenden und in Unruhe
verharrenden Greise zum Ausdruck gebracht wird. Die in weitausholenden Kurven wellenartig umgeworfenen
Stoffmassen des Mantels, die eng zusammengeschoben und scharfkantig modelliert als Faltenbündel zwischen
den Beinen bis in Fußhöhe herabfallen oder — ähnlich geschichtet — über den Oberarm geworfen sind, gleichen
den Draperien, die bei dem Evangelistar die Verkündigungsmadonna, den Engel der Dreikönigsbilder (Abb. 16),
oder im Hortus die Gestalt des sitzenden Familienhauptes oder die mit Johannes redende Madonna umhüllen
(Abb. 10, 17)3. Unverkennbar sind ferner die Beziehungen in Haar- und Barttracht; die in spitz aus-
gedrehten Strähnen gespaltenen Bärte, die sich überholenden Locken finden sich ebenso bei dem Simeon,
dem Ezechiel des Evangelistars (Fol. igv, i5r), wie bei dem Propheten mit der Rolle und der eindrucks-
vollen Gestalt des Moses; daß die gegossenen Figürchen auf einer höheren künstlerischen Stufe stehen
als die fraglichen Miniaturen, geht schon aus den Abbildungen mit Sicherheit hervor; der Ort ihrer Ent-
stehung liegt gewiß dem Ausgangspunkt des neuen Stiles, der uns beschäftigt hat, näher; wo er zu suchen
ist, darüber lassen sich bei solch lückenhaftem Material, wie es bis jetzt vorliegt, nur Vermutungen äußern.
Aber wenn wir dem bis Klosterneuburg bei Wien wandernden Nicolaus von Verdun zurückfolgen in seine
Heimatgegend, so werden wir schwerlich fehlgehen; es ist bekannt, welche Bedeutung dem Maasgebiet
in der Geschichte der Goldschmiedekunst des 12. Jahrhunderts zukommt, leider ist im Bereich der Buch-
malerei, die im allgemeinen am sichersten zu klaren Scheidungen und Ergebnissen führt, offenbar das
Meiste verloren oder aus anderen Gründen bisher der Forschung entzogen geblieben. So mag es zu erklären
sein, daß die hier behandelten Bilderhandschriften nahezu isoliert erscheinen. Verglichen mit dem, was
von Miniaturen elsässischer, mittelrheinischer oder kölnischer Herkunft bekannt geworden ist4, fügen sie
1 O. v. Falke, in Zeitschrift für christliche Kunst XVIII, 1905, S. 164 fr. —Ders., Der Dreikönigenschrein des
N. v. V. im Kölner Domschatz, M. Gladbach o. J. — Abb. bei Braun a. a. O. II, 35—47.
2 The Burlington Magazine, XXXVIII, 1921, S. 157 ff. 2 Tafeln.
3 Str. K. XXXIV bis unten, XLI unten.
4 Es seien angeführt: Als Beispiele oberrheinischer (elsässischer) Malerei um 1180 die Miniaturen der Chronik des
Otto von Freising (Jena) Universitätsbibi., Cod. Jen. Bos. q. 6) Abb. (Taf. I—XI), in Regesten der Bischöfe von Straßburg, I, 1.
Die elsässischen Annalen der Stauferzeit. Anhang II mit Text von E. Polaczek. Innsbruck 1908 (nicht verwandt mit dem

12
 
Annotationen