Remhold Nägele.
Obwohl er ein Schüler Rochgas auf der Stuttgarter
Kunstgewerbeschule war, kann man ihn getrost einen
Autodidakten nennen; alles, was er macht, zeigt die un-
gebundene Herkunft und die eigenwillige Verarbeitung
der fremden Einflüsse, denen sich heute wie zu Dürers
Ieiten kein junger Maler entziehen kann. Er ist ohne
Schule, soweit er sich aus die eigene Begabung zu ver-
lassen wagt; dieses Selbstvertrauen gibt seinen Blättern
die Sicherheit, Fremdestes mit Eigenstem zu mischen, sich
— um es drastisch zu sagen — japanischer Mittel zu be-
dienen, wo er Schwäbisches ausdrücken will. Ein Blatt
wie die Radierung „Bahn und Berg" (Abb.3) gibt diese
Mischung in der lustigsten Form: wie sich die Gleise der
Bahn aus der Diagonale in die Raumtiefe einbohren,
genau ins Ientrum der Bergpyramide, wie das Ge-
stänge der Telegraphenleitung in die Bildslache ein-
schneidet, genau da, wo die Bahn sich aus der Diagonale
abwendet, selbst die schnurrigen Striche der Ieichnung
im einzelnen, das alles ist nicht in Murrhardt gewachsen;
wohl aber die Empfindung, aus der das Blatt trotzdem
so deutsch und schwäbisch wirkt. Geradezu eine Umkeh-
rung im Verhältnis von Fremdem zu Eigenem ist der
„Blick aus Eßlingen"(Vollbild), wo sich erst nachher die
Abb. 3. Bahn und Berg.
künstlerische Uberlegung auftut, mit der das Gewirr der
Dächer nur summarisch behandelt wurde, um den Rat-
hausgiebel desto lebendiger werden zu lassen.
Einen gerechten Maßstab sür den weit ausholenden
Schritt der künstlerischen Arbeit in diesen Blättern ge-
winnt man erst durch einen Vergleich nüt einem unmittel-
bar gemalten Natureindruck, wie ihn etwa „Stuttgart
im Schnee" zeigt (Vollbild). Auch wenn man den Ab-
stand zwischen Pinsel und Radiernadel in Rechnung
stellt, verliert der verblüsfende Iwiespalt zwischen der
Ursprünglichkeit, zu sehen, und der bewußten Art, zu
verarbeiten, wenig von seinem Reiz. Es ist zweifellos
ein malerisches Meisterstück, dieses „Stuttgart im Schnee",
und man muß schon an eine ausgesprochene Neigung
der Begabung denken, um von dieser Frische aus die
fast trockene Strenge und das seltsame Ornament der
radierten Blätter zu verstehen.
Als stärkster Trieb einer solchen Neigung zeigt sich
eben der Schnörkel, den wir bei Vischer als die eigen-
tümliche Form seines schwäbischen Humors erkannten.
Der Schnörkel scheint auch bei Reinhold Nägeles Sonder-
barkeit die stärkste und gefährlichste Triebkrast zu sein,
der flüchtigste Blick auf seine radierten Figuren bestätigt
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Obwohl er ein Schüler Rochgas auf der Stuttgarter
Kunstgewerbeschule war, kann man ihn getrost einen
Autodidakten nennen; alles, was er macht, zeigt die un-
gebundene Herkunft und die eigenwillige Verarbeitung
der fremden Einflüsse, denen sich heute wie zu Dürers
Ieiten kein junger Maler entziehen kann. Er ist ohne
Schule, soweit er sich aus die eigene Begabung zu ver-
lassen wagt; dieses Selbstvertrauen gibt seinen Blättern
die Sicherheit, Fremdestes mit Eigenstem zu mischen, sich
— um es drastisch zu sagen — japanischer Mittel zu be-
dienen, wo er Schwäbisches ausdrücken will. Ein Blatt
wie die Radierung „Bahn und Berg" (Abb.3) gibt diese
Mischung in der lustigsten Form: wie sich die Gleise der
Bahn aus der Diagonale in die Raumtiefe einbohren,
genau ins Ientrum der Bergpyramide, wie das Ge-
stänge der Telegraphenleitung in die Bildslache ein-
schneidet, genau da, wo die Bahn sich aus der Diagonale
abwendet, selbst die schnurrigen Striche der Ieichnung
im einzelnen, das alles ist nicht in Murrhardt gewachsen;
wohl aber die Empfindung, aus der das Blatt trotzdem
so deutsch und schwäbisch wirkt. Geradezu eine Umkeh-
rung im Verhältnis von Fremdem zu Eigenem ist der
„Blick aus Eßlingen"(Vollbild), wo sich erst nachher die
Abb. 3. Bahn und Berg.
künstlerische Uberlegung auftut, mit der das Gewirr der
Dächer nur summarisch behandelt wurde, um den Rat-
hausgiebel desto lebendiger werden zu lassen.
Einen gerechten Maßstab sür den weit ausholenden
Schritt der künstlerischen Arbeit in diesen Blättern ge-
winnt man erst durch einen Vergleich nüt einem unmittel-
bar gemalten Natureindruck, wie ihn etwa „Stuttgart
im Schnee" zeigt (Vollbild). Auch wenn man den Ab-
stand zwischen Pinsel und Radiernadel in Rechnung
stellt, verliert der verblüsfende Iwiespalt zwischen der
Ursprünglichkeit, zu sehen, und der bewußten Art, zu
verarbeiten, wenig von seinem Reiz. Es ist zweifellos
ein malerisches Meisterstück, dieses „Stuttgart im Schnee",
und man muß schon an eine ausgesprochene Neigung
der Begabung denken, um von dieser Frische aus die
fast trockene Strenge und das seltsame Ornament der
radierten Blätter zu verstehen.
Als stärkster Trieb einer solchen Neigung zeigt sich
eben der Schnörkel, den wir bei Vischer als die eigen-
tümliche Form seines schwäbischen Humors erkannten.
Der Schnörkel scheint auch bei Reinhold Nägeles Sonder-
barkeit die stärkste und gefährlichste Triebkrast zu sein,
der flüchtigste Blick auf seine radierten Figuren bestätigt
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