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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft 6
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Mahrholz, Werner: Albert Steffen: Betrachtungen über die Idee der Gemeinsamkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0155

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lbert Steffen.

Betrachtungen über die Jdee der Gemeinsamkeit.
Von vr. Werner Mahrholz.

I.

Der tiefste Schmerz der Generation, welche die Aeit
vor dem Weltkriege repräsentiert, war das Erlebnis ihrer
grenzenlosen Vereinsamung und Vereinzelung. Dieser
Austand des Sonderseins, an welchem die einzelnen
Jndividuen litten, lähmte zu einem guten Teil auch ihre
schöpferischen Kräfte, die sie in Erbitterung gegen das
Bestehende, in Kritik und Satire aufbrauchten. Fremd
standen die Jndividuen sich gegenüber; in feindlicher
Spannung belauerte ein Mensch den anderen; Miß-
trauen, Verzweiflung, innerer Zusammenbruch auf der
einen, Frechheit, llberhebung, Lästerung auf der anderen
Seite waren die Außerungen eines zerreißenden Nihilis-
mus der von allen Göttern verlassenen Ieit. Liebe,
Vertrauen, Treue, diese Grundpfeiler alles gemein-
samen Lebens und Wirkens der Menschen waren aus der
Welt gewichen und eine hemmungslose Ubertreibung
des Verstandesgebrauches erstickte die Regungen der
Seele und machte die wahre Freiheit des Geistes, der
in der Vernunft, nicht im Verstande sein Organ hat, un-
möglich.

Das Grunderlebnis der neuen Generation und der-
jenigen Dichter und Schriftsteller aus der Generation
von 1885, welche innerlich jung geblieben sind und eine
entschiedene, dem Bejahenden zugewandte Entwicklung
durchlebt haben, ist das Glück und die belebende Kraft
der Gemeinsamkeit. Das Einzelsein des Jndividuums,
die Absonderung der Einzelperson wird in diesem neuen
Erlebnis grundsätzlich aufgegeben zugunsten einer neuen
Freiheit der Persönlichkeit, die ihre Bestimmung nicht
mehr in einem Losgelöstsein von allen Hemmungen,
sondern in einer ständigen Bereitschaft zur Ersüllung
aller Pflichten findet. Das Jndividuum alS solches hat
— nach diesem neu-alten Freiheitsbegriff — keinen Wert
und keine Berechtigung als bloßes Dasein, — es ge-
winnt vielmehr Sinn und Wert erst durch seine tätige
Teilnahme an der Verwirklichung allgemein-verbind-
licher Jdeen, religiös gesprochen: durch die Darstellung
Gottes im menschlichen Tun, durch das Gottähnlichwerden
der unsterblichen Seele in rastloser, schwerer Arbeit an
sich selbst. Nicht mehr die Macht des Verstandes oder
die Größe des Talentes oder sonst eine Teilbegabung
des Menschen verleiht ihm Wert und Würde, sondern
allein die Größe der Seelenkraft und das Maß von Geist,
die ein Mensch in sich zu geschlossener und doch lebendiger
Einheit zu binden und als Dichter, Künstler, Gelehrter,
Schriftsteller, Politiker oder sittlicher und gebildeter
Mensch in Leistungen und Werken oder in Gesinnungen
und Taten herauszustellen vermag. Die Bruchstücke des
Menschenwesens gelten nichts mehr vor der erneuerten
Ganzheit des Menschen als eines lebendigen, wirkenden
und gestaltenden Geist- und Seelenwesens.

Diese neue Einstellung zum Leben mit ihrer neuen
Wertung des Menschen ist nicht mit einem Schlage da-
gewesen, sie hat sich langsam gebildet. Dichterisch hat
sie in dem Lebenswerke Paul Ernsts, Stefan Georges

und Wilhelm Schäfers (um repräsentative Männer
dieser Entwicklung zu nennen) Gestalt gewonnen. Bei
allen dreien handelt es sich zum mindesten als Streben
und Wille, nicht um Literatur als Sonderbetrieb der
Iivilisation und Befriedigung individueller Sensationen,
sondern um Dichtung als Ausdruck gemeinsam-verbin-
denden Lebensgefühles einer organischen Einheit von
Menschen. Die Esoterik Georges, die Gesellschaftlichkeit
Ernsts, die Volksmäßigkeit Schäfers haben einen letzten
gemeinsamen Grund: den Willen zur Bildung allgemein-
verbindlicher Gefühle, den Willen zu einer neuen see-
lischen Gemeinsamkeit.

Was bei diesen Männern harterarbeitetes, langsam
gewonnenes Ergebnis ihres Lebensganges ist, das wird
für die neue Generation Ausgangspunkt ihres Strebens
und Wollens. Jhr gehört der junge Schweizer Dichter
Albert Steffen an, von dessen Schriften die Rede sein
soll. Das letzte Erlebnis seiner Menschlichkeit ist ein
tragendes Gefühl für die innige Iusammengehörigkeit
alles dessen, was Menschenangesicht trägt, im Bezirke
der Seele. Dieses Gefühl einer letzten Solidarität alles
Menschlichen erlöst uns Vereinzelte, durch tausend
Konventionen, durch eigene und fremde Schuld in Ein-
samkeit und Jchsucht Verstrickte aus dieser Ode und
Leere und gibt uns im Genusse des höchsten Glückes
der Gemeinsamkeit ein Unterpfand für das Dasein
unserer höheren Menschennatur, die, über alles Trennende
hinweg, uns im Menschen den Bruder erkennen und
achten lehrt. Dieses tiefe Erlebnis vom Glück der Ge-
meinsamkeit und seiner seelenbefreienden Macht ist das
eigentlich tragende Pathos in Stesfens Dichtung. Alles
andere: seine Kritik der Iivilisation, seine pädago-
gische Neigung, sein Anspornen zu sittlicher Tat, seine
Stellung zum Leid, seine Haltung zu den Jdeen von
Erlösung und Entwicklung, Volkstum und Bildung —
muß als Ausprägung dieses innersten Erlebnisses be-
trachtet werden, wie denn auch die Ausformung dieses
Lebensstoffes in Kunstwerken von hier aus gesehen
werden muß. Die Einsamkeit der modernen Seele und
das Pathos der Gemeinsamkeit alles Menschlichen —
zwischen diesen beiden Polen des Erlebens bewegt sich
Steffen; diesen seelischen Gegensatz sucht er als Dichter
in Gestalten und Schicksalen zum Ausdruck zu bringen,
diese Spannung von Sein und Sollen macht den Ge-
halt seines Werkes aus.

II.

Wir sehen, daß Steffen in Hinsicht auf Gehalt und
Pathos seiner Werke die Tradition seiner dichterischen
Vorgänger aufnimmt. Aber damit nicht genug, ist auch
die künstlerische Auffassungsweise des Lebensstoffes
und seine Ausformung in Werken bei ihm durchaus
traditionell bedingt. Die allgemeine Tendenz des
19. Jahrhunderts drängte auf realistische Erfassung der
Wirklichkeit, was denn gegen das Ende des Jahrhunderts
roh-materialistisch und ideenlos-naturalistisch umgedeutet
wurde. Das letzte Ergebnis dieser Entwicklung war eine
Ausweitung der Erlebnisfähigkeit, eine Schärfung der
Aufmerksamkeit für seelische und naturhaste Nuancen
und eine Schulung der Ausdrucksmittel für sehr feine,
zarte, lyrische Stimmungen. Das verlogene Jdealisieren
war durch diese materialistisch-naturalistische Radikalkur

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