Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

DOI Heft:
Heft 9
DOI Artikel:
Zur Linde, Otto: Lyrik im Vortragssaal
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0245

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Lyrik im Vortragssaal.

züchtet, um ihm neue Seiten „abzugewinnen". So
gewinnsüchtig ist nämlich der übliche Deklamator. Es
kann auch eine Deklamateuse sein. Und ist meist groß
Aungengetöse dabest aber wenig innere Nötigung. Die
Auhörerschast aber bleibt rein im Außerlichen stecken, sie
bewundert den Schmiß, die Verve, die Geziertheit, die
Raffinerie des Vortragenden.

Es gibt ja schon so sehr viele Deklamationsschulen, wo
nian die Notzüchtigung lyrischer Gedichtc lernen kann.
Eine ganz schlimme Geschmacksverirrung. Ein Talmi-
betrieb.

Da üben sie Iunge, Iahn und Gaumen. Brust,
Rücken und Hüften. Arm und Bein und allen Gestus.
Und jede Falte des Gesichts. Und morden das Gedicht
mit Lust und Lieblosigkeit.

Ms ist ein Widersinn, die Lyrik in den Saal zu tragen.
Lyrik, ist Angelegenheit eines Einzelnen, und aller Ein-
zelnen, nie aber einer Masse. Es ist eine greuliche Kunst-
verballhornung, Lyrik vor die Masse zu bringen. Wider-
strebt der Lyrik in den Wurzeln. Ein Epos ja, das ginge
schon an. Man braucht ja nur an die homerischen Rhap-
soden zu erinnern.

Man muß doch daran denken, was Lyrik für eine
Kunstgattung ist. Man tötet ja ihre Seele, wenn man sie
in den Saal schleift. Dies ist der Unterschied: die lyrischen
Gedichte im Drama sind nicht an sich da, sondern im
Drama sind sie da. Und da das Drama aufgeführt wird,
so ergibt sich ein solches Gedicht aus der adäquaten Ge-
legenheit. Denn ..... dies Gedicht wird ja nicht den
Personen im Iuhörerraum „deklamiert", sondern ist
entweder eine eigene Angelegenheit einer Person im
Drama, oder wird einer anderen oder mehreren im
Drama vorgetragen. Etwa Romeos Liebesverse derJulia.
Diese Verse stehen nicht ihrer selbst wegen an ihrer Stelle,
sondern sind Verinnerlichung und liebliche Süße der
Liebesnacht im Drama. Sind also nicht losgelöst.

Jm Vortragssaal aber wären diese Shakespeare-Verse
weiter nichts als Perlen, die roh und blöd aus einem
Kollier gerissen werden und einzeln ins Parkett hinunter-
rollen. Eine ganz sinnlose Vergeudung.

Es gibt wohl kaum eine „adäquate Gelegenheit", die
uns das Recht gäbe, die Lyrik (mit den oben angeführten
Ausnahmen) in den Saal zu schleifen. Es sei denn fol-
gende. Wenn etwa eine lyrische Kunst so neu oder auch
nur ungewöhnt wäre, daß sie vom bloßen Lesen nicht
adäquat gcnug aufgefaßt werden könnte. Da läge also

die Gelegenheit in der Kunst des Gedichts selber. Und
sie wäre nur so lange berechtigt, bis diess Gelegenheit
nicht mehr nötig wäre. Bis man also allgemein im
Publikum so weit wäre, diese Lyrik zu lesen. Die neue
„Jahrtausendlyrik" des Arno Holz z. B. hätte ein volles
Recht, sich in den Saal zu flüchten. Aber nur so lange
hätte ein Arno Holz sein Recht, biö man sich allgemein
darüber klar geworden wäre, was er nun mit seiner
neuen Kunst „formal" wolle. Jch spreche hier mit großer
Absicht rein sachlich. Denn darum handelt es sich ja nicht,
ob die Tüpfelverse des Arno Holz gute oder schlechte
Kunst seien, erstmal hätte er das Recht, zu demonstrieren,
durch Vorlesen, wie diese Verse wirklich klängen. Denn
das ist betrübliche Tatsache, daß ein Publikum eingeölt
ist, immer nur eine engbegrenzte Anzahl von phonetischen
Klischees aus der Lyrik herauszuhören. Es hat doch
immer wieder ganz echte Neudichter jahrzehntelang ab-
gelehnt, weil sie seinem (des Publikums) allgemeinen
„Ohr" nicht lagen.

Was könnte aber ein Dichter tun, um seine neue Lyrik
dem „Ohr" des Publikums zu erschließen? Erstmal
müßte er doch jede Verwechslung mit üblicher Dekla-
matorenkunst vermeiden. Denn daß man das große
Einmaleins mit ganz großer „deklamatorischen" Ge-
rissenheit und phonetischer Wirkung deklamieren kann,
das weiß doch jeder. Das ware ein Parallelfall zu den
bekannten Komponistenscherzen, wenn ein Wiener Kom-
ponist, um seinen Freund zu frozeln, dessen Walzer als
Trauermarsch umsetzt.

Also ein lyrischer Neuerer wird seine Gedichte im
Saal vorlesen, ganz so, wie sie in ihm phonetisch und
inhaltlich klingen und fließen. Möglichst ohne jede Auf-
polierung. Das Publikum müßte allerdings über diese
lehrhafte Absicht von vornherein sehr schroff aufgeklärt
werden, denn sonst verlangt es, daß man auf seinen
theatralischen Jnstinkten spiele.

Die Ungerechtigkeit setzt dann sofort ein. „Der und
der sollte lieber scine Vcrse nicht vortragen, er hat keine
Stinnne, keinen Gestus, keine Schulung." Während
doch gewollt war, zu zeigen, wie die Phonetik „neu"
sei, und welche „Kurven" da lägen. Es handelte sich also
ums Gedicht und nicht um den Vortragenden. Dies
allerdings geht kaum ein in eines Publikums grobes
Verständnis. Seine groben Jnstinkte wehren sich. So
wieder beweisend, daß ein Gedicht meist nicht in den
Saal gehört. f?25ss

eutsche Bücherei in Belgien.

Von Willi Dünwald.

Es ist eine große Freude, über ein Kriegswerk zu berichten,
das wobl dienen soll der eigenen Nation, abcr darum kcineswegs
sich der Welt verschließt, vielmehr warm am Busen hält, was dcm
übcrnationalen Sinne nach zu ihm gehört. Selbst ein Angehöriger
der deutschfeindlichen Mächte müßte, so ihm nicht der nationale
Furor den Geist verwirrte, urteilen, daß mit der „Deutschen Bücherei
in Belgien" — die vornehmlich den Besatzungstruppen zur freien
Verfügung stehcn soll, aber auch von Deutschen in Belgien gegen
ein kleines Entgeld benutzt werden kann -— ctwas geschaffen wurde,
das, weil cs gut ist, anerkannt werden muß. Er müßte gleich mir
die Güte dieser Cinrichtung vor allem darin finden, daß man hier
aufbaute auf der Erkeimtnis: nun wie nie geistig einwirken zu
können auf die vielen, die im Friedensalltag das Tagwerk ihrer

Hände zu schaffen haben und darum für geistigc Angelegenheiten
nicht so viel Ieit finden, als dies wünschenswert wäre. Und daß
diese Erkcnntnis grundlegend war, sagt cinem von Seite zu Seite
der Katalog, der vor kurzem erschienen ist. Wäre nur daran gelegen
gewesen, den Geist des Soldaten in dienstfreien Stunden leicht-
hin zu bcschäftigen, so hätte genügt, ihm cinen Stapel Unterhal-
tungslektüre untern Arm zu geben, deren der zweihundertseitige
Katalog allerdings auch eine Anzahl verzeichnet, aber ihrer doch
nicht mehr, als jede Volksbibliothek davon besitzt. Daß statt dem
Schund und dem Kitsch, für deu dermaleinst den Autoren samt
ihren Verlegern in jenem Ring der Danteschen Hölle vergolten
werden wird, in dem die Vergifter sühnen, die Klassiker repräsen-
tieren, ist selbstverständlich, ist Ehrenpflicht. Aber der Katalog
— o so ein Bücherkatalog ist gleich einem Atlas, der einem die
Phantasie weitet entgegen bekannten und unbekannten Ländern
des Geistes — erzählt dcm, der Büchertitel zu lesen vermag, von
 
Annotationen