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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0114

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Sowjet-Russland
Herwarth Walden
Verbrecher Kolonie
Die Kommune der 0 G P U
Zwar nimmt man außerhalb der USSR an,
daß die Bolschewisten eine Abart von Men-
schenfressern sind, die abgesehen von dieser
Tätigkeit zunächst die Fremden und dann
gegenseitig sich selber bestehlen und berau-
ben. Trotzdem kennt man auch dort Ver-
brecher, sozusagen bürgerliche Verbrecher.
Also Leute, die, wie in anderen Ländern mit
Ordnung und Kirche, sich berufsmäßig mit
Mord, Raub, Diebstahl und Vergewaltigung-
befassen. Diese Leute wurden im alten Ruß-
land mit vieljährigen Zuchthausstrafen verse-
hen. Da im sozialistischen Staat die private
Beschäftigung mit diesen Berufen ebenfalls
nicht gestattet ist oder unter Strafe gestellt
wird, begann man sich mit dem Problem
zu befassen, wie man diese Leute zu Mit-
gliedern wenigstens der sozialistischen Ge-
sellschaft machen könne. Studienmaterial war
in Zuchthäusern des alten Rußlands reich-
lich vorhanden. Dserjinsky, Führer der
Tscheka, also amtlicher Menschenfresser der
USSR, begab sich vor einigen Jahren per-
sönlich in diese humanen Rettungsanstalten
des Zarismus, in denen man sich bemühte,
unordentliche Mitglieder der bürgerlichen Ge-
sellschaft durch Prügel, schlechtes Essen und
Sonderstrafen der bürgerlichen Gesellschaft
zurückzugewinnen und sie in den Kreis der
allgemeinen und insbesondere der christlichen
Menschenliebe wieder einzuordnen. Die Kirche
scheute nicht einmal die Kosten, den nötigen
zweckentsprechenden Apparat auf eigenes Ri-
siko einzurichten. Jeder Gefangene bekam so-
gar seine eigene feinverschlossene Zelle, um
sich ungestört von menschlicher Gesellschaft
dem Dienst Gottes widmen zu können. Dser-
jinsky fand die Heilerfolge der Unternehmun-
gen für den gegenwärtigen sozialistischen

Staat nicht ausreichend. Die Erziehung zum
allgemeinen und grundsätzlichen Menschen-
fressertum muß auf eine andere Weise durch-
geführt werden. Er suchte sich etwa hundert
Verbrecher aus, die ihm für seine Zwecke
geeignet erschienen, und hielt ihnen etwa
folgende Rede: „Genossen, man hat es für
richtig gehalten, eine anders geartete Ordnung
zwischen den Menschen herzustellen. Ihr seid
frei. Da ihr aber weder zu schlafen noch
zu essen habt und sich nicht jeden Moment
die Gelegenheit ergibt, in euerem früheren
Beruf zu arbeiten, seid ihr eingeladen, eine
kleine Villa zu beziehen, die uns ein Scho-
koladenfabrikant unfreiwillig zur Verfügung
gestellt hat. Leider sind wir arm und können
euch nicht ernähren. Wir haben aber eine
kleine Fabrik, in der ihr sofort arbei-
ten könnt, wenn ihr wollt. Ihr werdet dafür
s'o- gut oder so schlecht wie ein Arbeiter
bezahlt werden. Auch ist ein Genosse da,
der euch gern zeigt, wie man mit den Ma-
schinen umgeht. Nach euerer Arbeit könnt
ihr auch schreiben, lesen und rechnen lernen.
Das sind die Künste der ehemaligen Gesell-
schaft, die man euch nicht beigebracht hat,
um auch unordentliche Mitglieder der Ge-
sellschaft zu erzeugen und dadurch mensch-
liches Besserungsmaterial zu gewinnen. Wir
sind auch bereit, euch etwas Vorschuß zu
geben, weil ihr nicht sofort verdient. Der
Vorschuß wird natürlich von euerem Arbeits-
lohn abgezogen. Ueberlegt euch meinen Vor-
schlag.“ Die hundert Mann setzten sich leicht
überrascht zusammen. Selbst die Gefängnisse
waren nicht so verschlossen, daß sie nichts
von den verbrecherischen Taten der sozia-
listischen Gesellschaft gehört hätten. Sie wa-
ren also mißtrauisch. Offenbar hatte man vor,
sie in irgendeinen weltentlegenen Winkel zu
schleppen und sie zu ermorden, um sie ihrer
Kleidung und ihrer Habseligkeiten zu be-
rauben. Was man mit einem Fremdwort so-
zialisieren nennt. Da der Aufenthalt im Zucht-
haus auch nicht besonders reizvoll war, be-
schloß man, den Vorschlag anzunehmen und

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