101
1893.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
102
gewannen, dafs Anfangs Mangel an Verständnifs
und Unbeholfenheit die Ausbeutung und Ver-
wendung der gefundenen Ideen und Formen-
schätze erschwerten; dafs ein beschränktes Be-
dürfnifs mit dem gefundenen Reichthum kaum
Rath wufste und den Baumeister der Dorfkirche
das Studium der Kathedrale mehr verwirrte als
förderte, es durfte wohl von der Zeit, von dem
eingehenden und besonnenen Studium eine
Klärung und Sichtung erwartet werden. Wenn
sich nun zwar eine grossartige Thätigkeit, aber
nicht ganz in der gehofften Weise offenbarte,
lieh christliche Kunst entstehe, ist es gewifs an
erster Stelle nothwendig, dafs ein Volk mit
ganzem Herzen zum Himmel strebe, aber die
Menschheit mufs auch schon im irdischen Jam-
merthal eine auf breitester Grundlage gesicherte,
behaglich poetische Existenz gefunden haben.
Gediegene allgemeine Wohlhabenheit mufs in
allen Gesellschaftsklassen herrschen, Millionäre
und Hungerleider sollen die seltenen unglück-
lichen Ausnahmen bilden. Begeisterte Phantasie
und Vernunft, Thatkraft und Besonnenheit,
Opfermuth und Frohsinn, Emsigkeit und Ge-
Fig. 1.
so mufs wohl ein dritter ungünstig wirkender
Faktor in Betracht gezogen werden. Die Neu-
zeit war hereingebrochen mit ihren Ideen und
Erfindungen, alte Gebräuche und Gepflogen-
heiten über den Haufen werfend, durch Ma-
schinenwesen und Kapitalvereinigung die ganze
Gesellschaft umgestaltend. Fortschritt und Rück-
schritt zugleich schufen die jetzige schwankende
soziale Lage, deren bekannte Kennzeichen sind:
rücksichtsloser Kampf um's Dasein, tollste Markt-
schreierei, gewissenlose Ausbeutung, feinste
Appretur bei minderwerthigem Inhalt, allge-
meine Unsicherheit, nervöse Hast, krankhafte
Genufssucht und betrübte Stimmung. Damit eine
höhere, selbstständige, monumentale, nament-
Grundrifs.
duld mögen sich dann zum grofsen Werke
vereinigen!
Betrachten wir ein wenig bei der heutigen
allgemeinen Auflösung und Verwirrung fast aller
Verhältnisse, der Zerrüttung und Deprimirung
sämmtlicher Berufsarten, in welchen Zuständen
die verschiedenen Mitwirkenden an einem öffent-
lichen Bauwerke sich befinden. Die Bauherren,
die Gemeinden mit ihren Vertretern stehen einer
neuen, unbekannten Aufgabe gegenüber. Da
es keine einheitliche, zielbewufste Künstlerschaft,
kein geschlossenes, vertrauenswürdiges Bauge-
werbe gibt, sondern nur ein Heer von Archi-
tekten und sonstigen Bauleuten, die ihre Sonder-
wege gehen, so fängt mit der Wahl schon gleich
1893.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
102
gewannen, dafs Anfangs Mangel an Verständnifs
und Unbeholfenheit die Ausbeutung und Ver-
wendung der gefundenen Ideen und Formen-
schätze erschwerten; dafs ein beschränktes Be-
dürfnifs mit dem gefundenen Reichthum kaum
Rath wufste und den Baumeister der Dorfkirche
das Studium der Kathedrale mehr verwirrte als
förderte, es durfte wohl von der Zeit, von dem
eingehenden und besonnenen Studium eine
Klärung und Sichtung erwartet werden. Wenn
sich nun zwar eine grossartige Thätigkeit, aber
nicht ganz in der gehofften Weise offenbarte,
lieh christliche Kunst entstehe, ist es gewifs an
erster Stelle nothwendig, dafs ein Volk mit
ganzem Herzen zum Himmel strebe, aber die
Menschheit mufs auch schon im irdischen Jam-
merthal eine auf breitester Grundlage gesicherte,
behaglich poetische Existenz gefunden haben.
Gediegene allgemeine Wohlhabenheit mufs in
allen Gesellschaftsklassen herrschen, Millionäre
und Hungerleider sollen die seltenen unglück-
lichen Ausnahmen bilden. Begeisterte Phantasie
und Vernunft, Thatkraft und Besonnenheit,
Opfermuth und Frohsinn, Emsigkeit und Ge-
Fig. 1.
so mufs wohl ein dritter ungünstig wirkender
Faktor in Betracht gezogen werden. Die Neu-
zeit war hereingebrochen mit ihren Ideen und
Erfindungen, alte Gebräuche und Gepflogen-
heiten über den Haufen werfend, durch Ma-
schinenwesen und Kapitalvereinigung die ganze
Gesellschaft umgestaltend. Fortschritt und Rück-
schritt zugleich schufen die jetzige schwankende
soziale Lage, deren bekannte Kennzeichen sind:
rücksichtsloser Kampf um's Dasein, tollste Markt-
schreierei, gewissenlose Ausbeutung, feinste
Appretur bei minderwerthigem Inhalt, allge-
meine Unsicherheit, nervöse Hast, krankhafte
Genufssucht und betrübte Stimmung. Damit eine
höhere, selbstständige, monumentale, nament-
Grundrifs.
duld mögen sich dann zum grofsen Werke
vereinigen!
Betrachten wir ein wenig bei der heutigen
allgemeinen Auflösung und Verwirrung fast aller
Verhältnisse, der Zerrüttung und Deprimirung
sämmtlicher Berufsarten, in welchen Zuständen
die verschiedenen Mitwirkenden an einem öffent-
lichen Bauwerke sich befinden. Die Bauherren,
die Gemeinden mit ihren Vertretern stehen einer
neuen, unbekannten Aufgabe gegenüber. Da
es keine einheitliche, zielbewufste Künstlerschaft,
kein geschlossenes, vertrauenswürdiges Bauge-
werbe gibt, sondern nur ein Heer von Archi-
tekten und sonstigen Bauleuten, die ihre Sonder-
wege gehen, so fängt mit der Wahl schon gleich