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Zeitschrift für christliche Kunst — 6.1893

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Heft 5
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Beissel, Stephan: Zur Reform der Ikonographie des Mittelalters
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https://doi.org/10.11588/diglit.4305#0090

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1893. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 5.

US

Zur Reform der Ikono

m 15. Briefe des 7. Buches schreibt
Cassiodor dem Präfekten der Stadt
Rom: Facta veter um exclusis
defectibus innovemus et nova ve-
tustatis gloria vestiamus. „Ahmen wir die Kunst-
werke der Vorfahren nach, indem wir deren
Fehler vermeiden, und geben wir unsern neuen
Schöpfungen die Vorzüge der alten." (Migne,
Patrol. LXIX col. 718.) Mit Recht stellte Cahier
diese Worte 1847 als Motto auf das Titelblatt
des I. Bandes seiner »Melanges«. In den »Ca-
racte'ristiques des saints« kommt er darauf zu-
rück (I, p. 13), um die Anwendung derselben
auf die christliche Ikonographie zu erläutern.
7,weierlei wollte er durch Zurückgreifen auf
Cassiodor den Künstlern der Gegenwart an's
Herz legen: zuerst, dafs die Archäologie zu
Anachronismen führt, wenn man sie nicht nur
zur Erklärung der alten Werke, sondern auch
als unbedingt mafsgebend für neue Werke
verwerthet; zweitens, dafs man bei Herstellung
neuer kirchlicher Kunstwerke weder die werth-
volle Entwickelungsreihe aufser Acht lassen darf,
welche von unsern Voreltern entfaltet ward,
noch auch verurtheilt sei zur sklavischen Nach-
ahmung von Dingen, welche für unsere Zeit
und für unsere Anschauungen nicht mehr passen.
Das Mittelalter glaubte gern, während unser
Jahrhundert an Zweifelsucht leidet; es bezog
alles mehr auf die Religion als wir können
oder wollen, drang aber auch tiefer ein in die
Geheimnisse der Natur und der Gnade und in
den Zusammenhang beider.

Zweifelsohne kann der christliche Künstler
des XIX. Jahrh. viel von seinen mittelalterlichen
Vorfahren lernen, nicht nur in Stil und Tech-
nik, sondern noch weit mehr für den idealen
Gehalt seiner Schöpfungen. Wo werden bei-
spielsweise heute noch die Tugenden und Laster
geschildert, welche die Kunst des XIII. Jahrh.
zu so grofsartigen Figuren ausbildete und welche
Giotto in so tiefsinnigen Bildern in der Kapelle
der Arena zu Padua malte? Die Kirche und
die Synagoge, das Glücksrad und die Lebens-
alter erscheinen immer seltener. Die Altväter
und Propheten, die Darstellungen des Gerichts,
des Himmels und der Hölle, die Zyklen des
Lebens Christi und Maria haben ihre alte Kraft
und Bedeutung vielfach verloren. Was ist uns
geblieben vom reichen Inhalt des ehemals so

graphie des Mittelalters.

beliebten Speculum humanae salvationis, der
Biblia pauperum und der Legenda aurea?
Leuchtet aus neuern Werken immer tiefe Fröm-
migkeit, Begeisterung und Liebe zu den dar-
gestellten Personen hervor? Viel Altes ist ver-
gessen, aufgegeben und verworfen, weil die alte
Form nicht mehr brauchbar ist, aber eine Um-
wandlung nicht gewagt wird. Man sucht nach
Neuem, und hat Recht dies zu thun, aber der
echte Künstler sollte es suchen nach Cassio-
dor's Anweisung, indem das Genie dem Ver-
alteten das Altfränkische nimmt und dem Neuen
die Vorzüge der Vorbilder wahrt.

Welcher vernünftige Mensch wird verkennen,
unsere Kenntnisse der Natur seien so weit vor-
geschritten, dafs die Grundlagen, worauf die
mittelalterlichen Thierbücher (Bestiairc
Physiologus) ihre Symbolik bauten, vielfach hin-
fällig geworden? Dadurch aber hat auch das
Symbol in vielen Fällen seine Berechtigung ver-
loren. Jungmann bemerkt in seiner Aesthetik
(3. Aufl. II. 116) mit Recht: „Was die religiösen
Künste uns vorführen, dafs mufs dem Wesent-
lichen nach historisch wahr sein. Aber
je mehr hierdurch den religiösen Künsten die
Gefahr fern gerückt ist, in Fehler gegen die
philosophische Wahrheit zu fallen . . . .,
um so entschiedener darf auch von ihnen ver-
langt werden, dafs sie dieselben vermeiden."

Niemand glaubt mehr, der Löwe komme leb-
los zur Welt, am dritten Tage aber werde er
belebt, weil der alte Löwe sein Junges anhauche.
Man wird also diese Geschichte nicht mehr
als Symbol der Auferstehung Christi brauchen
können. Sie ist um so entbehrlicher, weil ja
mit Rücksicht auf Apoc. 5, 5 (Vicit leo de tribu
Juda, radix David) der Löwe allein schon als
Erinnerung an den Sieg des Herrn gelten kann.
Auch die Jagd des Einhorns, das im Schoofse
einer Jungfrau Schutz sucht, dürfte schwerlich
mehr allgemein gefallen. Sie ist innerlich so
unwahrscheinlich, dafs in unserer Zeit der Geist
des Zweifels und des Widerspruchs sich an die
Unwahrheit des Ganzen hängen und so ver-
hindern wird, dafs jener Genufs entstehe, den
das Mittelalter fand, weil es die Erzählung
gläubig annahm und sich in Folge dessen
freute an den Vergleichungspunkten zwischen
dieser Jagd und der Verkündigung Christi durch
Gabriel,
 
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