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Zeitschrift für christliche Kunst — 6.1893

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Heft 12
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Beissel, Stephan: Die mittelalterlichen Mosaiken von S. Marco zu Venedig, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4305#0203

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363

1893. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTUCHE KUNST — Nr. 12.

364

Die mittelalterlichen Mosaike

Zweiter Theil. (Schiufe.i

Mosaiken im Innern der Marcuskirche.
uch wenn man durch die Mosaiken
der Facade und der Vorhalle bereits
an herrliche Sachen gewohnt ist,
wirkt der erste Blick in das Innere
der Kirche so grofsartig, dafs man fast in Ver-
wirrung geräth. Wohin soll man sehen, was zu-
erst betrachten ? Mit Recht sagt eine unter den
Arkaden der Gallerie angebrachte Inschrift:

Istoriis, auro, forma, specie tabtüarum

Hoc templum Marci fore, die, decus eedesiarum.

Hoch über dem Altare in dem der Evan-
gelist ruht und den die berühmte Pala d'oro
ziert, thront in der weiten goldenen Apsis ein-
sam und grofs die laut Inschrift erst 1506 an-
gefertigte Gestalt des Erlösers. Unter ihr stehen
zwischen drei Fenstern die Schutzheiligen der
Kirche: Petrus und Marcus, Nikolaus und
Hermagoras. Um die Apsis geht die Legende:
Sum rex eunetorum, curo factus amore reorum:
Ne dtsperetis, venic dum tempus habetis.

In diesen Bildern des Chores ist der Inhalt
der Mosaiken der Kirche angedeutet. Sie bringen
Bilder aus der Geschichte des Erlösers und aus
derjenigen seiner Heiligen. Die drei Kuppeln
des Mittelschiffes, mehrere Seitenwände und
Gurtbogen schildern sein Leben und Wirken;
die beiden Seitenkuppeln, andere Seitenwände
und Bogen tragen Figuren der Heiligen und
Szenen aus deren Leben.

I. Die drei Kuppeln des Mittelschiffes.
S. Marco ist bekanntlich eine mit fünf grofsen
Kuppeln versehene Kreuzkirche. Bezeichnen
wir dieselben, um für die Beschreibung der
Mosaiken eine klare Uebersicht zu gewinnen,
mit I—V. Die zwischen ihnen liegenden Gurt-
bogen mit B—F, die Seitenschiffe mit G—O,
die sechs gewaltigen, viertheiligen Pfeiler, worauf
die Kuppeln ruhen, mit a—f, die grofse Apsis
mit A, die kleinen Chorkapellen mit h und i.
Wir erhalten dann das folgende Schema:



h

A

i





H
a

I
B

G
b



1

M

IV

E

II

F

V

K

c

N
e

C
III
D

d
0
f

L

<:

o

-t

TT -

P n

OL S
Tb

halle

n von S. Marco zu Venedig-.

Die Mitte der I. Kuppel nimmt in einem
grofsen Medaillon das Bild Christi ein. Der
Herr hält in der Rechten eine schwarze
Scheibe, in der Linken eine Rolle. Im Umkreis
steht Maria, umgeben von dreizehn Propheten;
zu ihrer Rechten befinden sich David, Salomon
Malachias u. s. w., zur Linken Isaias, Jeremias,
Daniel, Abdias u. s. w. Die Spruchbänder bei
David, Salomon und Isaias haben auf Maria
bezügliche Texte aus deren Büchern; die der
übrigen betreffen Christus. In den Zwickeln sind
die Symbole der Evangelisten begleitet von
der Inschrift:

Quae sab ohscuris de Christo dieta figuris

His aperire datur et in his D<ns ipse notatur.

In der Mitte der II. Kuppel wird Christus
in einem blauen, mit Sternen besäten Kreise
durch vier Engel in den Himmel erhoben. Rings-
umher stehen Maria zwischen zwei Engeln und
die zwölf Apostel, durch je einen an den Oel-
berg erinnernden Baum getrennt. Wir haben
also hier die alte, dem Räume einer Kuppel
geschickt angepafste Darstellung der Himmel-
fahrt Christi mitAnschlufs anApostelgesch.l,10f.,
wo auch die beiden hier neben Maria gestellten
Engel erwähnt sind.

Im Tambour stellen zwischen den sechzehn
Fenstern ebensoviele Frauen Tugenden dar.
Starkmuth und Mäfsigung nehmen die Ehren-
stelle unterhalb der Gottesmutter ein, weil es
sich um die Ausstattung der „Kapelle des
Herzogs" handelt, für den diese Tugenden be-
sonders in Betracht kommen. Zur Rechten der
Starkmuth sieht man die drei göttlichen, zur
Linken die drei übrigen Kardinaltugenden und
neun andere Tugenden zweiter Ordnung. Sie
sind laut ihren Schriftbändern zu den acht Selig-
keiten in Beziehung gesetzt: Humilitas zuMatth.5
v. 3, Benignitas zu v. 4, Compulsio (= Poeni-
tentia) zu v. 5, Abstinentia zu v. C, Misericordia
zu v. 7, Patientia zu v. 9, Castitas zu v. 8,
Modestia zu Luc. 6 v. 22, Constantia zu Matth. 5
v. 10. Diese Verbindung der Tugenden und
Seligkeiten ist doch wohl echt abendländisch,
scholastisch und schwerlich vor dem XIII. Jahrh.
erfunden und gezeichnet worden.

Die Zwickel enthalten die Bilder der zwischen
je zwei Gebäuden vor Pulten sitzenden Evan-
gelisten und unter ihnen die vier Paradieses-
flüsse: kleine halbbekleidete Männer; auf den
Schultern tragen sie Krüge, aus denen Wasser
 
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