Abhandlungen.
Studien aus der historisch-
europäischen Ausstellung zu Madrid.
I. Der Prophet u. die Sibylle von Moretto.
Mit Lichtdruck (Tafel V).
' er vor zwanzig Jahren das Palast-
kloster Philipps II. auf die dort
noch verbliebenen Gemäldevorräthe
durchstöberte, fand in dem Vorsaal
der einst berühmten Sakristei, der Antesagrestia,
zwischen einigen Bildern der Neapeler Schule
noch die Kreuzabnahme Roger's van derWeyden,
das wahre Original aus U. L. F. vor der Mauer
zu Löwen, zu ihren Seiten aber zwei flügel-
artige Bilder, dort „florentinische Schule" ge-
nannt, vor denen Jeder, obwohl sie nicht so
rasch zu entziffern waren, doch sogleich empfand,
dafs man nichts Banales vor sich hatte. Von
dem Maler von Tournai lagen sie freilich weit
ab nach Art, Herkunft und Zeit, doch aber war
ihre Aufstellung nicht ganz ohne Sinn. Es waren
nämlich Gestalten der alten Oekonomie und
nach den beiden Inschrifttafeln Urheber räthsel-
hafter, auf die Passion des Heilands deutbarer
Sprüche; Jesajas mit der Stelle Kap. 53, 5: ET
LIVORE EIVS SANATI SUMVS, die ery-
thräische Sibylle mit der Weissagung: MORTR
PROPRIA MORTVOS SUSCITABIT.
Diese Tafeln waren beschädigt, getrübt, aus-
gebessert, überdies in schlimmem Licht zu sehen.
Sie mufsten Theile eines gröfseren Ganzen ge-
wesen sein. Und da unter den 940 Gemälden,
die der Katalog des Escorial von D. Vicente
Polerö aufzählt, keines in ihrem Kreise lag, ihn
auch nur berührte, keines also eine Gedanken-
leitung zu dem ungenannten Meister hätte her-
stellen können, so war es kein Wunder, dafs
noch Niemandem einen Vers auf sie zu machen
geglückt war. Als Anonymi sind sie auch von
den früheren gelehrten Periegeten des Escorial
nicht beachtet worden, und es gibt keine Nach-
richt über ihr Wann und Woher.1)
1) D. Vicente Polerö y Toledo, Catälogo de los
cuadros del Real Monasterio de San Lorenzo. Madrid
1857. Nr. 52 u. 54. Escuela Florentina. Jedes hoch 2'
9" 8'", breit 2' C".
Dank dem feinenBlick des Grafen von Valencia
kamen sie dennoch im vorigen Herbst in die Aus-
wahl der für die historisch-europäische Aus-
stellung zu Madrid bestimmten Escorialbilder.
Darunter waren u. a. Hauptwerke des Roger,
wie die Kreuzigung aus der Karthause von
Brüssel, und des Hieronymus Bosch. Die meisten
Besucher jener Ausstellung, auch Manche denen
der Escorial nicht unbekannt war, haben diese
Stücke dort zum ersten Male gesehen, ja man
glaubte, sie seien bei diesem Anlafs entdeckt
worden. Diese Kunstwerke, unschätzbar für die
geschichtlichen Studien, ohne jeden Zweck in
den Winkeln jenes Riesenpalastes versteckt, ge-
hörten in das Museum zu Madrid, wo ihnen
viele sehr gleichgültige und sehr viel Raum be-
anspruchende Stücke Platz machen könnten.
Aber dazu ist es nun zu spät.
Wechsel des Standorts und der Umgebung
führt auch zu neuen Vorstellungsverbindungen,
und bisweilen sogar zu Aufschlüssen. So ging es
dem Verfasser, der die Tafeln früher im Escorial
gesehen hatte, als er am 25. November in den
grofsen Saal Nr. XV trat und das Morgenlicht
der klaren castilischen Herbstsonne den alten
hebräischen Seher bestrahlte. Da schien ihm
auch ein Lichtchen in's Gedächtnifs, es hiefs:
Ahssandro Bonvicino, genannt // Moretto, von
Brescia. Der Funke (um das Bild zu ändern),
der von Madrid nach Brescia übersprang, hatte
sich an dem Mantel des Propheten entzündet.
Hier nämlich war jener dem Moretto eigene
silberschimmernde Ton, die Nebeneinander-
stellung zweier sehr verwandter Roth, mit den
zarten Lichtern auf den flachen Faltenbrüchen.
Die Erkennung hätte übrigens ebensogut von
dem bei dem Maler beliebten schweimütlrigen
Seitenblick ausgehen können.
Bei dem Interesse eines Werkes des aufser
seiner Stadt Brescia seltenen Meisters mag ein
näheres Eingehen auf die Tafeln an diesem Ort
gestattet sein.
Die beiden Tafeln werden Flügel eines Altar-
werks, vielleicht auch Theile eines Orgelgehäuses
gewesen sein. In S. Nazzaro zu Brescia sieht man
noch zwei Heiligenfiguren, die von einem solchen
Studien aus der historisch-
europäischen Ausstellung zu Madrid.
I. Der Prophet u. die Sibylle von Moretto.
Mit Lichtdruck (Tafel V).
' er vor zwanzig Jahren das Palast-
kloster Philipps II. auf die dort
noch verbliebenen Gemäldevorräthe
durchstöberte, fand in dem Vorsaal
der einst berühmten Sakristei, der Antesagrestia,
zwischen einigen Bildern der Neapeler Schule
noch die Kreuzabnahme Roger's van derWeyden,
das wahre Original aus U. L. F. vor der Mauer
zu Löwen, zu ihren Seiten aber zwei flügel-
artige Bilder, dort „florentinische Schule" ge-
nannt, vor denen Jeder, obwohl sie nicht so
rasch zu entziffern waren, doch sogleich empfand,
dafs man nichts Banales vor sich hatte. Von
dem Maler von Tournai lagen sie freilich weit
ab nach Art, Herkunft und Zeit, doch aber war
ihre Aufstellung nicht ganz ohne Sinn. Es waren
nämlich Gestalten der alten Oekonomie und
nach den beiden Inschrifttafeln Urheber räthsel-
hafter, auf die Passion des Heilands deutbarer
Sprüche; Jesajas mit der Stelle Kap. 53, 5: ET
LIVORE EIVS SANATI SUMVS, die ery-
thräische Sibylle mit der Weissagung: MORTR
PROPRIA MORTVOS SUSCITABIT.
Diese Tafeln waren beschädigt, getrübt, aus-
gebessert, überdies in schlimmem Licht zu sehen.
Sie mufsten Theile eines gröfseren Ganzen ge-
wesen sein. Und da unter den 940 Gemälden,
die der Katalog des Escorial von D. Vicente
Polerö aufzählt, keines in ihrem Kreise lag, ihn
auch nur berührte, keines also eine Gedanken-
leitung zu dem ungenannten Meister hätte her-
stellen können, so war es kein Wunder, dafs
noch Niemandem einen Vers auf sie zu machen
geglückt war. Als Anonymi sind sie auch von
den früheren gelehrten Periegeten des Escorial
nicht beachtet worden, und es gibt keine Nach-
richt über ihr Wann und Woher.1)
1) D. Vicente Polerö y Toledo, Catälogo de los
cuadros del Real Monasterio de San Lorenzo. Madrid
1857. Nr. 52 u. 54. Escuela Florentina. Jedes hoch 2'
9" 8'", breit 2' C".
Dank dem feinenBlick des Grafen von Valencia
kamen sie dennoch im vorigen Herbst in die Aus-
wahl der für die historisch-europäische Aus-
stellung zu Madrid bestimmten Escorialbilder.
Darunter waren u. a. Hauptwerke des Roger,
wie die Kreuzigung aus der Karthause von
Brüssel, und des Hieronymus Bosch. Die meisten
Besucher jener Ausstellung, auch Manche denen
der Escorial nicht unbekannt war, haben diese
Stücke dort zum ersten Male gesehen, ja man
glaubte, sie seien bei diesem Anlafs entdeckt
worden. Diese Kunstwerke, unschätzbar für die
geschichtlichen Studien, ohne jeden Zweck in
den Winkeln jenes Riesenpalastes versteckt, ge-
hörten in das Museum zu Madrid, wo ihnen
viele sehr gleichgültige und sehr viel Raum be-
anspruchende Stücke Platz machen könnten.
Aber dazu ist es nun zu spät.
Wechsel des Standorts und der Umgebung
führt auch zu neuen Vorstellungsverbindungen,
und bisweilen sogar zu Aufschlüssen. So ging es
dem Verfasser, der die Tafeln früher im Escorial
gesehen hatte, als er am 25. November in den
grofsen Saal Nr. XV trat und das Morgenlicht
der klaren castilischen Herbstsonne den alten
hebräischen Seher bestrahlte. Da schien ihm
auch ein Lichtchen in's Gedächtnifs, es hiefs:
Ahssandro Bonvicino, genannt // Moretto, von
Brescia. Der Funke (um das Bild zu ändern),
der von Madrid nach Brescia übersprang, hatte
sich an dem Mantel des Propheten entzündet.
Hier nämlich war jener dem Moretto eigene
silberschimmernde Ton, die Nebeneinander-
stellung zweier sehr verwandter Roth, mit den
zarten Lichtern auf den flachen Faltenbrüchen.
Die Erkennung hätte übrigens ebensogut von
dem bei dem Maler beliebten schweimütlrigen
Seitenblick ausgehen können.
Bei dem Interesse eines Werkes des aufser
seiner Stadt Brescia seltenen Meisters mag ein
näheres Eingehen auf die Tafeln an diesem Ort
gestattet sein.
Die beiden Tafeln werden Flügel eines Altar-
werks, vielleicht auch Theile eines Orgelgehäuses
gewesen sein. In S. Nazzaro zu Brescia sieht man
noch zwei Heiligenfiguren, die von einem solchen