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Zeitschrift für christliche Kunst — 6.1893

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Heft 5
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Justi, Carl: Studien aus der historisch-europäischen Ausstellung zu Madrid, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4305#0082

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131

1893. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST

Nr. 5.

132

herrühren. Auch eine Sibylle mit Spruchtafel, in
landschaftlicher Umgebung, besitzt nach Caval-
caselle die dortige Sammlung Fenaroli.

Beide Gestalten sind in schmale, flache, zu
einer röthlichen Wand gehörige Nischen versetzt.
In deren Bogen sind grüne Kränze von Eichen-
laub und Lorbeer an Bändern aufgehängt, darin
liest man auf Zetteln die Namen ISAIE und
ERYTHRAEA•S•

Beide sind in kontrastirende Beziehungen
gesetzt. Der Prophet steht mit dem Körper ab-
gewandt, aber sein Auge richtet sich über die
Schulter nach dem Betrachter. Die Sibylle lehnt
über ihre Tafel, wie über eine Brüstung, nach
vorne zu, aber das Angesicht kehrt sie ab, nach
der Wand, den Blick gesenkt. Indem sie sich
auf die Arme stützt, die in anmuthiger Nach-
lässigkeit, wie in einem träumerischen Zustand
übereinandergekreuzt sind, zeigt sie sehr schöne
Hände. — Eigen ist, dafs das Licht in beiden
Tafeln von entgegengesetzten Seiten einfällt.

Die Kennzeichnung solcher nur als Verfasser
ihrer heiligen Texte bekannten Personen kann
der Schrift und Symbolik nicht entrathen. Ihre
Mission ist ausgedrückt durch die Inschrift der
Tafel, auf die eine leise Fingerbewegung hinweist.
Mit diesem Minimum von Handlung soll die
Verborgenheit ihres Lebens angedeutet werden.
Man dachte sie sich aus ihrer kontemplativen
Einsamkeit nur in seltenen Augenblicken heraus-
tretend, um Sprüche zu verkünden, die bestimmt
sind, zum Besten der Nachwelt, der sich ihr
volles Verständnifs erst erschliefsen kann, auf-
bewahrt, versiegelt zu werden.

Aber Moretto, der tief und zart empfindende
Maler, hat auch in Geberde und Blick den
Charakter dieser Sprüche, ihren tiefen Ernst aus-
drücken wollen.

Jesajas ist hier nicht der Schauer Jahve's
(Kap. 6), wie ihn (nach unserer Ansicht) Michel-
angelo aufgefafst hat. Er ist der Urheber der
Rede vom leidenden Knecht des Herrn, — dem
die Lösung des den hebräischen Geist so tief
beunruhigenden Räthsels vom Leiden des Ge-
rechten sich erschlofs im Gedanken eines sühnen-
den Leidens: „Durch seine Strieme ward Hei-
lung uns." — Es ist eine hohe Gestalt, das Ant-
litz weit überschattet von einer dunklen Kapuze
(wie der Auferstandene in Moretto's Mahl zu
Emaus von dem breiten Hut). Er trägt eine lange
gürtellose Tunica, und darüber einen etwas

helleren Mantel, der so geworfen ist, dafs er dem
hervortretenden entblöfsten linken Arm ganz freie
Bewegung läfst. Dieser mächtige, stark muskulöse
Arm ist auch für den Meister bezeichnend.

Er scheint eben aus seinem einsamen Grübeln
aufgestört, die begehrten Mittheilungen jedoch
auf den räthselhaften Spruch, den er der Tafel
eingezeichnet hat, beschränken zu wollen. Dies
drückt der erhobene Zeigefinger der auf ihr
ruhenden Hand aus. Der fast in jedem Gemälde
Moretto's wiederkehrende, hier fast düstere Seiten-
blick drückt das autoritative: „Höre Israel!"
aus, und das resignirte Prophetengefühl: „Wer
glaubt unsrer Kunde?"

Die erythräische Sibylle ist in jugendlichem
Reiz (auch Michelangelo gibt sie so), nicht
wie sonst als Greisin dargestellt. Ihre Tracht
ist eigenthümlich vornehm, — ein dunkelgrünes
Sammtkleid, mit hellrothem Saum, darüber ein
ärmelloser weifser Ueberwurf, mit überaus rei-
chem, aus Perlen verschiedener Gröfse gesticktem
Kragen. Dessen Saum bilden zehn sehr grofse
Perlen (in der Mitte, am Halse, ein Rubin), ein-
gefafst von zwei Reihen kleinerer Perlen. Mög-
lich ist, dafs man hierbei statt an das jonische
Erythra, ihren Wohnsitz, an das rothe Meer wegen
seiner Perlenfischerei gedacht hat. Ein hauben-
förmiger kurzer Schleier, über dem Scheitel glatt
anschliefsend, beschattet leicht Stirne und Augen.

Die Gestalt ist von eigenem Zauber. Wie
festlich geschmückt, als Priesterin einer fremden,
von derGeschichte vergessenen Ordnung, scheint
sie im Begriff gewesen zu sein, vor die ihrer
harrende Menge begeistert hinzutreten. Aber
in dem Augenblick, wo sie sich ihr zuwendet,
um den Strom der von ihr ersonnenen Sprüche
zu entfesseln, verstummt sie und wendet sich ab.
Als sei ihr plötzlich ein Gesicht erschienen, ein
Ruf hörbar geworden, der ihre Gedanken stört
und auslöscht. Mit dem Hinweis auf die Tafel
deutet sie an, dafs sie nicht sprechen wird. Ueber
die anmuthige Gestalt senkt sich eine stille
Trauer, wie die einer höheren, edlen Natur,
die den Beifall und Jubel, der ihr entgegen-
klingt, in seinem wahren Werth durchschaut. Sie
fühlt die Scheidungslinie zwischen sich und der
Welt. Sie weifs, dafs der Weg zu Wahrheit und
Leben durch eine dunkle Pforte geht. Aber

Die Lust der Welt will keinen Zügel,
Sie will nur den, der sie befreit.

Bonn.

Carl J ust i.
 
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