237
1893.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 8.
238
Kirche übernommene und begonnene Arbeit
vollendet sei.2) Palmieri hat überdies neuestens
in den Regesten des Papstes Honorius III. einen
23. Januar 1218 an den Dogen von Venedig
gerichteten Brief gefunden, worin letzterer er-
sucht wird, noch zwei Mosaicisten zu senden,
welche einem bereits vorher aus Venedig ge-
kommenen bei Vollendung der Apsis von St. Paul
helfen sollten.3)
Aus den Bestimmungen jener Statuten läfst
sich noch eine andere wichtige Folgerung ab-
leiten. Mufste jeder Meister wenigstens zwei
Gesellen haben und durfte er keine Arbeit über-
nehmen, bevor die begonnene vollendet war, so
ergibt sich daraus, dafs keineswegs an S. Marco
eine grofse Mosaikwerk-
stätte bestand, worin alle
Arbeiten gemeinsam an-
gefertigt wurden. Nein; die
Meister wirkten selbst-
ständig nebeneinander.
Steht dies aber einmal
fest, so ist nicht ausge-
schlossen, dafs einige mehr
dem morgenländischen,
andere mehr dem abend-
ländischen Geschmacke
huldigten. Ja, es können
sogar byzantinische (in
Griechenland oder in
Italien gebildete, einhei-
mische oder eingewan-
derte) Meister neben italie-
nischen gearbeitet haben.
Dafs in Venedig grie-
chische und italienische Künstler nebeneinander
arbeiteten, dafs in einer früheren Zeit die Mit-
glieder der griechischen Malerzunft der hl. Sophia
das Uebergewicht hatten, aber allmählich diesen
Vorrang verloren und durch die neuere, 1147
offiziell anerkannte Malerzunft des hl. Lukas in
den Hintergrund gedrängt wurden, scheint sicher.
(Mothes »Geschichte derBaukunstVenedigs«164;
»Die Baukunst in Italien« II, 800.) Vielleicht
werden sich Spuren beider Richtungen, vielleicht
Zeichen ihrer Konkurrenz in den Mosaiken von
S. Marco finden.
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Figur 2.
Oben: Miniatur aus der Cottonbibel nacb Garrucci
unten: Mosaik aus S. Marco nach Tikkanen.
2) Faciemus, qtiod omnes magistri de muxe, qui
nunc sunt ad opus diclae Ecclesiae deputati. haheant
et leneant ad minus duos pueros apud se, qui videant
et addiscant dictam artem. Etc. 1. c.
s) De Rossi »Musaici cristiani». Lief. 20 u. 21;
»Bulletino« (1883) IV, 2 p. 97.
IT. Die Mosaiken der Vorhalle.
Die Vorhalle besteht aus zwei einen rechten
Winkel bildenden Hallen. Die ältere mit zwei
Kuppeln liegt nach Westen vor der Haupt-
fagade und vor dem Ende des Mittelschiffes,
die andere mit vier Kuppeln neben dem nörd-
lichen Seitenschiff. 180 Szenen oder Einzelfiguren
in Mosaik bedecken jene sechs Kuppeln, die
zwischen letztern liegenden Bogen und die Seiten-
wände. Sie eingehend und einzeln zu beschreiben
verbietet der beschränkte Raum einer Zeitschrift.
Uebrigens genügt eine Aufzählung um so mehr,
weil sie in dem grofsen Werke Ongania's ab-
gebildet und sowohl von Meschinelli (»La chiesa
ducale di S. Marco.« Venezia 1753) als von
Pasini weitläufig behan-
delt worden sind. Heben
wir das Wichtigste aus:
Die I. Kuppel enthält
in drei Kreisen und in
26 Szenen in genauem
Anschlufs an die ersten
Kapitel der Genesis die
Geschichte des Sechstage-
werkes, der Sünde und der
Vertreibung der Stamm-
eltern aus dem Paradiese.
Die einzelnen Schöpfungs-
tage sind so dargestellt,
dafs G Ott (wohl nach Joh. 1,3
das Wort: „Otnuia per
ipsum facta sunt") bart-
los, in weifsem Kleide,
goldenem Pallium, San-
dalen, Kreuzesnimbus und
Kreuzesstab vor den einzelnen Klassen der Ge-
schöpfe steht, und am ersten Tage von einem
Engel, am zweiten von zwei, am dritten von
drei Engeln u. s. w. begleitet ist. Das Bild des
dritten Schöpfungstages ist hier in Figur 2 ge-
geben. Am siebenten Tage sitzt der Schöpfer
'Christus) auf einem Thron zwischen sechs Engeln,
den Repräsentanten des Sechstagewerkes, und
legt einem siebenten Engel, dem Vertreter des
Ruhetages, segnend die Hand auf's Haupt. In
der 12. Szene ist der Text „Et inspiravit in
faciem ejus spiraculum ritae" so dargestellt, dafs
vor Gott die eine Hand erhebende Lehmgestalt
Adams steht und eine kleine geflügelte Figur
(Psyche) zu ihrem Angesicht hinfliegt. In der
13. Szene wird der erste Mensch vom Schöpfer
in's Paradies eingeführt, wo die Personifikationen
1893.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 8.
238
Kirche übernommene und begonnene Arbeit
vollendet sei.2) Palmieri hat überdies neuestens
in den Regesten des Papstes Honorius III. einen
23. Januar 1218 an den Dogen von Venedig
gerichteten Brief gefunden, worin letzterer er-
sucht wird, noch zwei Mosaicisten zu senden,
welche einem bereits vorher aus Venedig ge-
kommenen bei Vollendung der Apsis von St. Paul
helfen sollten.3)
Aus den Bestimmungen jener Statuten läfst
sich noch eine andere wichtige Folgerung ab-
leiten. Mufste jeder Meister wenigstens zwei
Gesellen haben und durfte er keine Arbeit über-
nehmen, bevor die begonnene vollendet war, so
ergibt sich daraus, dafs keineswegs an S. Marco
eine grofse Mosaikwerk-
stätte bestand, worin alle
Arbeiten gemeinsam an-
gefertigt wurden. Nein; die
Meister wirkten selbst-
ständig nebeneinander.
Steht dies aber einmal
fest, so ist nicht ausge-
schlossen, dafs einige mehr
dem morgenländischen,
andere mehr dem abend-
ländischen Geschmacke
huldigten. Ja, es können
sogar byzantinische (in
Griechenland oder in
Italien gebildete, einhei-
mische oder eingewan-
derte) Meister neben italie-
nischen gearbeitet haben.
Dafs in Venedig grie-
chische und italienische Künstler nebeneinander
arbeiteten, dafs in einer früheren Zeit die Mit-
glieder der griechischen Malerzunft der hl. Sophia
das Uebergewicht hatten, aber allmählich diesen
Vorrang verloren und durch die neuere, 1147
offiziell anerkannte Malerzunft des hl. Lukas in
den Hintergrund gedrängt wurden, scheint sicher.
(Mothes »Geschichte derBaukunstVenedigs«164;
»Die Baukunst in Italien« II, 800.) Vielleicht
werden sich Spuren beider Richtungen, vielleicht
Zeichen ihrer Konkurrenz in den Mosaiken von
S. Marco finden.
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Figur 2.
Oben: Miniatur aus der Cottonbibel nacb Garrucci
unten: Mosaik aus S. Marco nach Tikkanen.
2) Faciemus, qtiod omnes magistri de muxe, qui
nunc sunt ad opus diclae Ecclesiae deputati. haheant
et leneant ad minus duos pueros apud se, qui videant
et addiscant dictam artem. Etc. 1. c.
s) De Rossi »Musaici cristiani». Lief. 20 u. 21;
»Bulletino« (1883) IV, 2 p. 97.
IT. Die Mosaiken der Vorhalle.
Die Vorhalle besteht aus zwei einen rechten
Winkel bildenden Hallen. Die ältere mit zwei
Kuppeln liegt nach Westen vor der Haupt-
fagade und vor dem Ende des Mittelschiffes,
die andere mit vier Kuppeln neben dem nörd-
lichen Seitenschiff. 180 Szenen oder Einzelfiguren
in Mosaik bedecken jene sechs Kuppeln, die
zwischen letztern liegenden Bogen und die Seiten-
wände. Sie eingehend und einzeln zu beschreiben
verbietet der beschränkte Raum einer Zeitschrift.
Uebrigens genügt eine Aufzählung um so mehr,
weil sie in dem grofsen Werke Ongania's ab-
gebildet und sowohl von Meschinelli (»La chiesa
ducale di S. Marco.« Venezia 1753) als von
Pasini weitläufig behan-
delt worden sind. Heben
wir das Wichtigste aus:
Die I. Kuppel enthält
in drei Kreisen und in
26 Szenen in genauem
Anschlufs an die ersten
Kapitel der Genesis die
Geschichte des Sechstage-
werkes, der Sünde und der
Vertreibung der Stamm-
eltern aus dem Paradiese.
Die einzelnen Schöpfungs-
tage sind so dargestellt,
dafs G Ott (wohl nach Joh. 1,3
das Wort: „Otnuia per
ipsum facta sunt") bart-
los, in weifsem Kleide,
goldenem Pallium, San-
dalen, Kreuzesnimbus und
Kreuzesstab vor den einzelnen Klassen der Ge-
schöpfe steht, und am ersten Tage von einem
Engel, am zweiten von zwei, am dritten von
drei Engeln u. s. w. begleitet ist. Das Bild des
dritten Schöpfungstages ist hier in Figur 2 ge-
geben. Am siebenten Tage sitzt der Schöpfer
'Christus) auf einem Thron zwischen sechs Engeln,
den Repräsentanten des Sechstagewerkes, und
legt einem siebenten Engel, dem Vertreter des
Ruhetages, segnend die Hand auf's Haupt. In
der 12. Szene ist der Text „Et inspiravit in
faciem ejus spiraculum ritae" so dargestellt, dafs
vor Gott die eine Hand erhebende Lehmgestalt
Adams steht und eine kleine geflügelte Figur
(Psyche) zu ihrem Angesicht hinfliegt. In der
13. Szene wird der erste Mensch vom Schöpfer
in's Paradies eingeführt, wo die Personifikationen