DIE ENTWICKLUNG DER KUNSTVERGLASUNG.
I.
Die Kunstverglasung ist nicht, wie man vielfach
meint, eine Abkürzung der eigentlichen Glasmalerei,
eine einfachere und billigereAbzweigung,-sie ist viel-
mehr die Anfangsstufe, auf der sich erst in späterer
Entwicklung die figürliche Glasmalerei gebildet hat.
Soweit uns Kunde wird von buntfarbigem Fenster-
schmuck in vorromanischer Zeit, hören wir von Ar-
beiten, die wir heute Kunstverglasung nennen. Von
figürlicher Glasmalerei kann keine Rede sein; ja
besondere Kenner der Glasmalerei behaupten, bis
zum Jahre 700 — 800 vermöge man überhaupt von
keiner Buntfarbigkeit der Fenster zu sprechen. Denn
wenn von dem prachtvollen Farbenspiel die Rede
sei, das die Sonne durch die Fenster hindurch auf
dem Fußboden einer Kirche erzeuge, so sei die
Quelle dieser Farben nicht etwa in den Gläsern
der Fenster, sondern in dem polychromen Belag des
Bodens zu suchen. So besonders der größte Kenner
der Glasmalerei in Frankreich, Lucien Magne. Wir
glauben, daß Magne vielleicht zu weit geht, daß
vielmehr die Buntverglasung einer etwaigen Blank-
verglasung vorausging, da die ganze Tradition der
Technik auf Herstellung farbigen Glases hielt. Es
ist längst erkannt, daß die Kunstverglasung ur-
sprünglich dem Gerippe der Fenster folgte und in
lediglich dienender Stellung die Lücken ausfüllte, die
von dem Gerippe freigelassen wurden. Dadurch
kam die Kunstverglasung von vornherein in eine
künstlerische Bahn. Denn die sprudelnde Erfindungs-
kraft der Alten verschmähte die kunstlos in ein
Quadrat oder Rechteck geschnittene Glasscheibe, die
heute sogar in Häusern, deren Zweck der Kunst
dient, herrscht und ausschließlich herrscht, sie schuf
vielmehr die schönsten und abwechslungsreichsten
Formen. Meistens war es ein Steingerippe, das die
Füllung der Fenster zierte. Anfangs schwer und
massig, erleichterte sich die Zeichnung immer mehr,
bis im Zeitalter der Karolinger das Bleinetz End-
resultat dieser Entwicklung wurde. Wann und wo
zum erstenmal buntfarbige Glasstücke in Bleiruten
gefaßt wurden, läßt sich heute nicht mehr verfolgen.
Zum erstenmal tritt das Blei an einem Reliquien^
Schrein auf, der vor einigen Jahren auf einem
Friedhof in Frankreich gefunden wurde und in die
ausgehende Karolingerzeit datiert werden darf
Bezeichnender Weise bildet bereits auf diesem ehr-
würdigen Denkmal das Blei nicht etwa bloß ein
technisches Mittel zum Zusammenhalt der Gläser,
sondern es ist die ästhetische Seele, es trägt die
Zeichnung und macht das Handwerk zum Kunst-
werk, wiederum ein Beweis, wie geradlinig sich
das Bleinetz aus dem Steingerippe der alten Fenster-
füllungen entwickelt hat. Freilich liegen uns Bei-
spiele dieses Werdeprozesses erst aus der Zeit des
Abschlusses der Entwicklung vor.
Zerlegen wir nun den Begriff Kunstverglasung
in ihre verschiedenen Ausdrucksformen, so er-
geben sich zunächst die mit farbigem und die mit
farblosem Glas arbeitenden Methoden, -die letztere
wird auch Grisaille genannt. Belgien ist hauptsäch-
lich das Land, in dem sich die farblose Kunstver-
glasung weit verbreitet und erhalten hat. Bei ihr
liegt der gesamte Reiz lediglich in der Zeichnung
des Bleinetzes, die bald geometrischen, bald stili-
sierten Pflanzenmotiven folgt. In den älteren und
neueren Werken über Glasmalerei z. B. von Ottin,
Geiges und Oidtmann werden Reste von Fenstern
füllungen veröffentlicht, die als Vorlagen für das
Bleinetz in Betracht kommen, so z. B. aus S. Apol-
linare in Classe in Ravenna und aus Fenioux, ohne
daß freilich zwingende Ähnlichkeiten dieser Stein-
werke mit alten Kunstverglasungen nachweisbar
wären. Dagegen bringt eine vor wenigen Wochen
veröffentlichte Studie von S. Flury (Die Ornamente
der Hakim= und Asharmoschee) geradezu über-
raschende Übereinstimmungen alter Fensterfüh
langen von Moscheen mit Kunstverglasungen, wie
sie noch in dem Cistercienserstift Heiligenkreuz
im Wiener Wald erhalten sind. Die Moscheen
sind um das Jahr 1000 entstanden und weisen
einen doppelten Schmuck auf, Ornamente, die sich
aus der arabischen Schrift entwickeln, und solche
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I.
Die Kunstverglasung ist nicht, wie man vielfach
meint, eine Abkürzung der eigentlichen Glasmalerei,
eine einfachere und billigereAbzweigung,-sie ist viel-
mehr die Anfangsstufe, auf der sich erst in späterer
Entwicklung die figürliche Glasmalerei gebildet hat.
Soweit uns Kunde wird von buntfarbigem Fenster-
schmuck in vorromanischer Zeit, hören wir von Ar-
beiten, die wir heute Kunstverglasung nennen. Von
figürlicher Glasmalerei kann keine Rede sein; ja
besondere Kenner der Glasmalerei behaupten, bis
zum Jahre 700 — 800 vermöge man überhaupt von
keiner Buntfarbigkeit der Fenster zu sprechen. Denn
wenn von dem prachtvollen Farbenspiel die Rede
sei, das die Sonne durch die Fenster hindurch auf
dem Fußboden einer Kirche erzeuge, so sei die
Quelle dieser Farben nicht etwa in den Gläsern
der Fenster, sondern in dem polychromen Belag des
Bodens zu suchen. So besonders der größte Kenner
der Glasmalerei in Frankreich, Lucien Magne. Wir
glauben, daß Magne vielleicht zu weit geht, daß
vielmehr die Buntverglasung einer etwaigen Blank-
verglasung vorausging, da die ganze Tradition der
Technik auf Herstellung farbigen Glases hielt. Es
ist längst erkannt, daß die Kunstverglasung ur-
sprünglich dem Gerippe der Fenster folgte und in
lediglich dienender Stellung die Lücken ausfüllte, die
von dem Gerippe freigelassen wurden. Dadurch
kam die Kunstverglasung von vornherein in eine
künstlerische Bahn. Denn die sprudelnde Erfindungs-
kraft der Alten verschmähte die kunstlos in ein
Quadrat oder Rechteck geschnittene Glasscheibe, die
heute sogar in Häusern, deren Zweck der Kunst
dient, herrscht und ausschließlich herrscht, sie schuf
vielmehr die schönsten und abwechslungsreichsten
Formen. Meistens war es ein Steingerippe, das die
Füllung der Fenster zierte. Anfangs schwer und
massig, erleichterte sich die Zeichnung immer mehr,
bis im Zeitalter der Karolinger das Bleinetz End-
resultat dieser Entwicklung wurde. Wann und wo
zum erstenmal buntfarbige Glasstücke in Bleiruten
gefaßt wurden, läßt sich heute nicht mehr verfolgen.
Zum erstenmal tritt das Blei an einem Reliquien^
Schrein auf, der vor einigen Jahren auf einem
Friedhof in Frankreich gefunden wurde und in die
ausgehende Karolingerzeit datiert werden darf
Bezeichnender Weise bildet bereits auf diesem ehr-
würdigen Denkmal das Blei nicht etwa bloß ein
technisches Mittel zum Zusammenhalt der Gläser,
sondern es ist die ästhetische Seele, es trägt die
Zeichnung und macht das Handwerk zum Kunst-
werk, wiederum ein Beweis, wie geradlinig sich
das Bleinetz aus dem Steingerippe der alten Fenster-
füllungen entwickelt hat. Freilich liegen uns Bei-
spiele dieses Werdeprozesses erst aus der Zeit des
Abschlusses der Entwicklung vor.
Zerlegen wir nun den Begriff Kunstverglasung
in ihre verschiedenen Ausdrucksformen, so er-
geben sich zunächst die mit farbigem und die mit
farblosem Glas arbeitenden Methoden, -die letztere
wird auch Grisaille genannt. Belgien ist hauptsäch-
lich das Land, in dem sich die farblose Kunstver-
glasung weit verbreitet und erhalten hat. Bei ihr
liegt der gesamte Reiz lediglich in der Zeichnung
des Bleinetzes, die bald geometrischen, bald stili-
sierten Pflanzenmotiven folgt. In den älteren und
neueren Werken über Glasmalerei z. B. von Ottin,
Geiges und Oidtmann werden Reste von Fenstern
füllungen veröffentlicht, die als Vorlagen für das
Bleinetz in Betracht kommen, so z. B. aus S. Apol-
linare in Classe in Ravenna und aus Fenioux, ohne
daß freilich zwingende Ähnlichkeiten dieser Stein-
werke mit alten Kunstverglasungen nachweisbar
wären. Dagegen bringt eine vor wenigen Wochen
veröffentlichte Studie von S. Flury (Die Ornamente
der Hakim= und Asharmoschee) geradezu über-
raschende Übereinstimmungen alter Fensterfüh
langen von Moscheen mit Kunstverglasungen, wie
sie noch in dem Cistercienserstift Heiligenkreuz
im Wiener Wald erhalten sind. Die Moscheen
sind um das Jahr 1000 entstanden und weisen
einen doppelten Schmuck auf, Ornamente, die sich
aus der arabischen Schrift entwickeln, und solche
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