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DER BAUMEISTER □ 1925, AUGUST
Ein eigenartiger Reiz liegt über dem neuen Holland, der
Reiz origineller Neuheit, die sich zu einer eigenartigen Kom-
position von Luft, Licht und Farbe vereinte. Man muß seine
persönliche Kunsteinstellung ablegen, muß mit einer Unbe-
fangenheit, die jede persönliche Auffassung verneint, durch
seine Städte und Straßen gehen, um eine Form empfinden
zu können, die uns, wenn auch nicht unverständlich, doch
zum Teile fremd bleiben wird. Es soll hiemit kein Werturteil
gefällt sein mit der Behauptung, daß wir bislang noch nicht
die Kraft besaßen — vielleicht besaßen wir auch nicht den
Wunsch und Willen —, uns von der alten Form und ihrer
allmählichen Entwicklung zu trennen, uns nicht dazu ver-
Richtungen ernstlich befehden, mögen wir von einer Amster-
damer und einer Rotterdamer Richtung sprechen können,
deren Ziele und Auffassungen in strengem Gegensatz zu-
einander stehen, so kann jede der beiden für sich als in
ihren Grundfesten gesicherte Norm betrachtet werden, die
kraft des ihr innewohnenden künstlerischen Ernstes und der
unerbittlichen Konsequenz ihres Aufbaues als bedeutsamer
Grundstein zu einer neuen nationalen Kunstrichtung auf dem
Gebiete der Architektur aufgenommen werden muß.
Der Auffassung Raum zu geben, daß mit der Kopierung
dieser neuen holländischen Richtung auch für Deutschland
der Grundstock einer neuen Baurichtung übernommen werden
Arch. P. Kramer A.etA., Amsterdam
Das sogen. „Schwarze Haus“ in Amsterdam
stehen konnten, unser ganzes, auf der Schulbank eingesogenes
Empfinden dem Wunsche unbedingter Neuheit unterzuordnen,
wie es Holland in den beispiellosen letzten zehn Jahren seiner
Geschichte der Baukunst getan.
Geschichte der Baukunst? Darf diese verhältnismäßig kurze
Epoche des Suchens und Ringens nach Neuheit und Originalität
heute bereits als eigenes Kapitel in jene eingereiht werden?
Was das Gebiet von Holland anbelangt, so muß diese Frage
ohne Zweifel ihre Bejahung finden. Während in Deutschland,
während in den Grenzlanden Hollands vereinzelte Kräfte ihr
Können in Anfangsversuchen verzetteln und hilflose Formen-
experimente unternehmen, ohne jedoch aus den Versuchen
heraus zur abstrakten Form zu gelangen, hat sich in Holland
die neue Form durchgesetzt und behauptet den von ihr ein-
genommenen Platz. Mögen sich auch heute noch einzelne
könne, müßte indes als starker Irrtum bezeichnet werden.
So international der Begriff der Kunst sein mag, so national
beschränkt ist der Begriff der Kunstauffassung. Aber auch
in rein technischer und praktischer Hinsicht vermögen Ein-
zelheiten, die dem Holländer gefallen und lieb sein mögen,
den Begriffen anderer Völker nicht sehr zu entsprechen. Uns
Deutschen wird infolge der besonderen klimatischen Verhält-
nisse das vielfach angewendete flache Dach der holländischen
Moderne wenig zweckmäßig erscheinen müssen, die Klein-
heit der holländischen Treppenhäuser bezw. die große Steigung
der Treppenstufen widerspricht unserem Bequemlichkeitsge-
fühle und der meist an Winkeln reiche Grundriss erscheint
uns etwas gezwungen, gesucht, zu sehr dem Augenblicks-
gedanken des Architekten untergeordnet, der dem Motiv zu-
liebe die Sachlichkeit zu opfern scheint.
DER BAUMEISTER □ 1925, AUGUST
Ein eigenartiger Reiz liegt über dem neuen Holland, der
Reiz origineller Neuheit, die sich zu einer eigenartigen Kom-
position von Luft, Licht und Farbe vereinte. Man muß seine
persönliche Kunsteinstellung ablegen, muß mit einer Unbe-
fangenheit, die jede persönliche Auffassung verneint, durch
seine Städte und Straßen gehen, um eine Form empfinden
zu können, die uns, wenn auch nicht unverständlich, doch
zum Teile fremd bleiben wird. Es soll hiemit kein Werturteil
gefällt sein mit der Behauptung, daß wir bislang noch nicht
die Kraft besaßen — vielleicht besaßen wir auch nicht den
Wunsch und Willen —, uns von der alten Form und ihrer
allmählichen Entwicklung zu trennen, uns nicht dazu ver-
Richtungen ernstlich befehden, mögen wir von einer Amster-
damer und einer Rotterdamer Richtung sprechen können,
deren Ziele und Auffassungen in strengem Gegensatz zu-
einander stehen, so kann jede der beiden für sich als in
ihren Grundfesten gesicherte Norm betrachtet werden, die
kraft des ihr innewohnenden künstlerischen Ernstes und der
unerbittlichen Konsequenz ihres Aufbaues als bedeutsamer
Grundstein zu einer neuen nationalen Kunstrichtung auf dem
Gebiete der Architektur aufgenommen werden muß.
Der Auffassung Raum zu geben, daß mit der Kopierung
dieser neuen holländischen Richtung auch für Deutschland
der Grundstock einer neuen Baurichtung übernommen werden
Arch. P. Kramer A.etA., Amsterdam
Das sogen. „Schwarze Haus“ in Amsterdam
stehen konnten, unser ganzes, auf der Schulbank eingesogenes
Empfinden dem Wunsche unbedingter Neuheit unterzuordnen,
wie es Holland in den beispiellosen letzten zehn Jahren seiner
Geschichte der Baukunst getan.
Geschichte der Baukunst? Darf diese verhältnismäßig kurze
Epoche des Suchens und Ringens nach Neuheit und Originalität
heute bereits als eigenes Kapitel in jene eingereiht werden?
Was das Gebiet von Holland anbelangt, so muß diese Frage
ohne Zweifel ihre Bejahung finden. Während in Deutschland,
während in den Grenzlanden Hollands vereinzelte Kräfte ihr
Können in Anfangsversuchen verzetteln und hilflose Formen-
experimente unternehmen, ohne jedoch aus den Versuchen
heraus zur abstrakten Form zu gelangen, hat sich in Holland
die neue Form durchgesetzt und behauptet den von ihr ein-
genommenen Platz. Mögen sich auch heute noch einzelne
könne, müßte indes als starker Irrtum bezeichnet werden.
So international der Begriff der Kunst sein mag, so national
beschränkt ist der Begriff der Kunstauffassung. Aber auch
in rein technischer und praktischer Hinsicht vermögen Ein-
zelheiten, die dem Holländer gefallen und lieb sein mögen,
den Begriffen anderer Völker nicht sehr zu entsprechen. Uns
Deutschen wird infolge der besonderen klimatischen Verhält-
nisse das vielfach angewendete flache Dach der holländischen
Moderne wenig zweckmäßig erscheinen müssen, die Klein-
heit der holländischen Treppenhäuser bezw. die große Steigung
der Treppenstufen widerspricht unserem Bequemlichkeitsge-
fühle und der meist an Winkeln reiche Grundriss erscheint
uns etwas gezwungen, gesucht, zu sehr dem Augenblicks-
gedanken des Architekten untergeordnet, der dem Motiv zu-
liebe die Sachlichkeit zu opfern scheint.