Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — 1.1922

DOI Heft:
Neue Bücher über Kunstwissenschaft
DOI Artikel:
Gregor, Joseph: [Rezension von: Museion]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.52117#0111

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
MUS EION

Der Untergang des Abendlandes geschah nicht unvorbereitet. Schon etwa ein Jahrzehnt
vor den großen Weltereignissen zeigte unsere Kultur, so blühend sie schien, den
sonderbaren Hang, sich von ihren Wurzeln zu lösen. Der Gedanke an die herrlich blü-
hende Wasserpflanze, deren Stiel wie von selbst entzweireißt, ist nicht abzuweisen. Aber
die Natur hat dort sicher für Weiterführung gesorgt — wir sehen es nicht so leicht ab,
die verloren gegangenen Wurzeln zu finden. Dieselbe Zeit, die die Gedichte Hofmanns-
thals und Stephan Georges, höchste Gebilde einer vergangenheitgesättigten Kultur, hervor-
brachte, ging daran, zu verbieten, daß den Schülern der Gymnasien, wie dies durch vier
Jahrhunderte abendländischer Erziehung Regel war, das Griechische gelehrt wurde, dieser
Schönheitsquell aller Zeiten! Das Renaissanceempfinden verlor sich zu Beginn des Jahr-
hunderts. Die unausrottbare Empfindeiei des Deutschen für den Westen trat an seine
Stelle. Vor zwei Jahrhunderten war es Frankreich gewesen, vor einem England, nun hieß
es Amerika. Hier war gewiß kein Renaissanceempfinden vonnöten; alles ließ sich geschäfts-
männisch klar und glatt an, unbedingt, tüchtig, zu unbegrenzten Möglichkeiten. Es war
die Welt, in der die Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts atmen zu können glaubten.
Nun schoben sich der Krieg und seine Ergebnisse mächtig ein. Deutschland, ernüchtert,
verkleinert, von Umwälzungen geschüttelt, steht plötzlich als Wand zwischen Ost und West
da, an die unsanft gepocht wird. Der Osten verfault. Der Westen überstrahlt sich selbst
in kapitalistischem Glanz. Beides ist scheinbar. Der Osten verfault nicht, er macht nur,
wie in der Weltgeschichte mehrmals, die tiefe Krise bis zum Grunde einer tiefen und
leidensfähigen Seele durch. Und er entsendet ein Heer von Sendboten und vorläufig recht
ungeordneten Ideen, von der sozialen Neuverfassung bis zu den Ansätzen neuer Re-
ligionen, zu dem Deutschen. Der steht noch immer enttäuscht, unberaten, einen so
jähen Wechsel des Geschicks nicht fassend. Seine Augen blicken noch immer nach Westen,
wo er sehen muß, daß man sich für eine die ganze Erde drückende Überlast von Geld
an das einst so bewunderte, jetzt vor dem zweiten Weltkonflikt mit Japan stehende Ame-
rika verkauft hat — seine Hände drehen ungeschickt und verwundert das neuerhaltene
Geschenk aus Osten.
Wenn wir uns nicht in dieser Stunde der kulturellen Ungewißheiten auf die eigene Ver-
gangenheit zurückbesinnen, ist die Kontinuität unserer Geschichte, ist unser kulturelles
Selbstbewußtsein zerrissen. Wenn wir uns nicht gegenüber dem ungeheuren östlichen
Einbruch entschieden westlich und abendländisch verhalten, haben wir dem Rassen-
umschwung zugunsten der Gelben vorgearbeitet. Wenn wir uns nicht endlich erinnern,
daß wir aus Athen stammen, die kurze Lehrzeit eines Frühlings in Florenz verbrachten
und nun diesen harten nördlichen Boden im Sinne des Geistes südlicher Schönheit urbar
zu machen haben, dann war die Mühe so vieler Jahrhunderte wirklich umsonst. Wenn
wir endlich wieder lernen, zwischen einer Negerplastik und dem Julius-Denkmai richtig
zu unterscheiden, nicht eines gegen das andere zu verkleinern, aber auch nicht jene
gegen dieses sentimental zu Überhöhen, werden wir unsere Wurzeln wiedergefunden haben.
Der Gedanke wendet sich zu einem Tresor des Geistes, dessen Gründung in die Zeit der
Hochrenaissance fällt und dessen erste Verwalter zu den Männern zählten, die im Gegen-
satz zur Gegenwart das Studium des Griechischen als erste für notwendig hielten. Wäh-
rend man in Wien stündlich die Ausrufung der Räterepublik erwartete, verbanden sich
auf dem Jahrhunderte alten Boden der Nationalbibliothek einige Männer zur Herausgabe

75

10*
 
Annotationen