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Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — 1.1922

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Valentiner, Wilhelm Reinhold: Ein unbekanntes Meisterwerk Tizians
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https://doi.org/10.11588/diglit.52117#0138

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EIN UNBEKANNTES MEISTER
WERK TIZIANS
WILHELM R. VALENTINER

Wenn Tizian dem Fürsten von Ferrara Alfonso d’Este schrieb, er sei
in seiner Meinung bestärkt worden, daß die Maler die Größe ihrer
Kunst zumeist der Mithilfe der großen Fürsten schuldeten, so war
dies mehr als eine verbindliche Redensart; der für das Gefühl von Verpflich-
tung sonst nicht sehr empfängliche Künstler war sich bewußt, daß er der
Begeisterung dieses Fürsten, der zuerst von allen italienischen Herrschern
für ihn mit Leidenschaft eintrat, viel für seine Kunst verdankte. Eine Reihe
außerordentlicher, aus dem Gesamtwerk des Künstlers emporragender
Schöpfungen entstand für den Hof von Ferrara seit Tizians erstem Aufenthalt
im Jahre 1516 bis zur Mitte der zwanziger Jahre, unter ihnen Schöpfungen,
die des Meister Namen in alle Welt zu tragen berufen waren und noch heute
im Munde aller Kunstfreunde sind. Das „Venusfest“ und das „Bacchanal“
(beide im Prado), „Bacchus und Ariadne“ (in der Londoner Nationalgalerie)
wurden für Alfonsos Studio im Schloß Bellosguardo geschaffen, in dem sich
schon Antonio Lombardis klassisch empfundene Marmorreliefs (jetzt in Peters-
burg) und das wunderbare „Bacchusfest“ Giovanni Bellinis befanden, ein Ge-
mälde, das der greise Künstler unvollendet hinterlassen hatte und das von Ti-
zian im landschaftlichen Teil vollendet wurde1. Wie für diese Werke, so scheint
Alfonso auch für den etwas früher entstandenen „Zinsgroschen“ in der Dres-
dner Galerie das Thema gestellt zu haben: das Bild illustrierte den biblischen
Spruch „Quod est Caesaris Caesari“, den der Herzog von Ferrara für die
Umschriften seiner Münzen gewählt hatte. — Weiter spricht Tizian in einem
Brief von der Darstellung eines „Bades“, die er im Auftrag Alfonsos male;
dieses Werk dürfen wir in der „Venus mit der Muschel“ in der Bridgewater
Galerie wiedererkennen. Auch hören wir von einem meisterhaften Porträt,
das der Künstler von Alfonso malte und das später sogar die Bewunderung
Michelangelos erregt haben soll, und von einem Bildnis der Laura de Dianti,
der Geliebten Alfonsos, das in einem Gemälde der Sammlung Cook in Rich-
mond wiederentdeckt worden ist. Und gewiß mit Recht hat man mit dieser
Gruppe von Werken die „Flora“ in den Uffizien, die „Vanitas“ in der Mün-
chner Pinakothek und die „Alfonso und Laura de Dianti“ benannte Toiletten-
szene im Louvre in Zusammenhang gebracht.
1 Freilich ist es auch möglich, daß Tizian das Bild im oberen Teil übermalte, um es mit seinen anderen Werken
im Raum in Einklang zu bringen. Um die ursprüngliche Beleuchtung und den beabsichtigten oder bereits aus-
geführten landschaftlichen Grund des Bildes kümmerte er sich dabei wenig. Links ist noch ein Stamm des
offenen Waldes, den Bellini auch auf dieser Seite ausgeführt hatte, unmotiviert stehen geblieben, und der von
Tizian hinzugefügte waldige Hang wird oben von links von der Abendsonne beleuchtet, die, wie der gerötete
Horizont des Bellinischen Himmels zeigt, auf der rechten Seite untergegangen ist.

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