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Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — 1.1922

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Suida, Wilhelm: Unbekannte Bildnisse von Tizian
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https://doi.org/10.11588/diglit.52117#0259

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UNBEKANNTE BILDNISSE VON
TIZIAN
WILHELM SUIDA

Den Veränderungfen der Zeit selbst bei gfrößter Schonung unentrinnbar
unterworfen sind die Werke der großen Maler die flüchtigsten Gebilde
der Raumkünste. Einflüsse des Lichtes und der Atmosphäre sowie
chemische Zersetzungen bewirken Wandlungen, die eine klare Erkenntnis der
künstlerischen Absichten der Schöpfer in vielen Fällen unmöglich machen.
Man kann sagen, daß die tieferen Probleme in der Geschichte der Malerei
heute erst geahnt werden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß eine naturwissen-
schaftlich genaue Bilduntersuchung, wie sie Dr. Gräff in München anbahnt,
Grundlagen sowohl für eine Revision der Oeuvrelisten der großen Maler als
auch für eine präzisere Erfassung der künstlerischen Absichten der Meister
und Zeiten geben wird. Die einseitige Überschätzung des Elementes der
Form gegenüber dem Element der Farbe in den Werken der Malerei ist heute
im Schwinden begriffen. Um so offenkundiger ist es, wie hilflos wir alle der
Forderung einer präzisen begrifflichen Erfassung der farbigen Erscheinung
gegenüberstehen, wie sehr es hier noch an Feststellung der klaren Quellen
historischer Erkenntnis mangelt. So wie es für das Verständnis des formalen
Aufbaus von grundlegender Bedeutung ist, wenn etwa aus einem größeren
Porträtbild nur der Kopf herausgeschnitten ist, das übrige verloren, so ist
der Farbenaufbau eines Bildes nicht zu verstehen, wenn durch unverstän-
diges Verputzen die Lasuren weggenommen und die Untermalung bloßgelegt
ist, weitgehende Übermalungen hinzugefügt oder durch gelb oder braun ge-
wordenen Firnis die Erscheinung der Farbencharaktere verändert ist. So
werden die Jüngeren, die nach uns kommen, noch viele Überraschungen
erleben, die großen Meister, die wir zu kennen glaubten, auf ihre Weise neu
entdecken. Sie werden Leonardos „Vierge aux rochers“ vom nußbraunen
Firnis befreien, Tintorettos „Scuola di San Rocco“ im neuen Glanz erstehen
lassen. Den Weg dazu aber kann nur die Erkenntnis ebnen: Daß unsere
Vorstellungen und Urteile auf einer nicht genügend differenzierten Masse von
Gemälden höchst verschiedengradigen Quellenwertes beruhen. Heute können
wir von dem Privatsammler und Händler noch nicht verlangen, alle Ver-
änderungen, Übermalungen und „Verschönerungen“ zu verabscheuen, wenn
sogar unsere Galerien oft die Unterschiede zwischen dem vorzüglich erhalte-
nen und dem stark restaurierten und übergangenen Bild verschleiern. In den
wissenschaftlichen Katalogen dürfte es zum mindesten an genaueren Angaben
über den jeweiligen Erhaltungszustand nicht fehlen.
Wer sich die Fülle der noch ungelösten Probleme im Schaffen eines Tizian
oder Rubens vergegenwärtigt, wird überzeugt sein, daß es der intensiven

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