EIN BILDENTWURF DES JACOPINO DEL CONTE
VON ERWIN PANOFSKY
Die in unserer Abbildung i zur Wiedergabe gelangende lavierte Federzeichnung gilt in
der graphischen Sammlung des Louvre als eine Schöpfung des Daniele da Volterra. Diese
Zuweisung, als solche für den Historiker des Kunstsammelns und der Kunsthistoriographie
nicht ohne Interesse1, ist, wie sich auf den ersten Blick herausstellt, eine irrige: das Lou-
vreblatt ist der Entwurf — oder besser die zur Vorlage an die Auftraggeber bestimmte
»Visierung« — für die Kreuzabnahme des Jacopino del Conte im Oratorio di S. Gio-
vanni Decollato (Abb. 2). Die in solchen Fällen stets aufzuwerfende Frage, ob es sich um
Vorzeichnung oder Nachzeichnung handle, ist hier sehr leicht im Sinne der ersteren
Möglichkeit zu entscheiden: die Federzeichnung weist dem Bilde gegenüber so viele, und
einerseits den allgemeinen Erfahrungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Entwurf
und Ausführung, anderseits aber der besonderen kunstgeschichtlichen Situation der Zeit
und des Autors so völlig entsprechende Veränderungen auf, daß an ihrer Priorität in keiner
Weise zu zweifeln ist. Und damit sind wir bereits in die Erörterung derjenigen Tatbe-
stände eingetreten, um derentwillen diese Zeichnung eines an und für sich nicht erst-
rangigen Meisters, von ihrer gleichwohl nicht geringen Individualbedeutung ganz abge-
sehen (denn der Künstler gehört innerhalb seiner Zeit zu den interessantesten, und unseres
Wissens ist eine andere Zeichnung seiner Hand bisher nicht bekannt geworden), doch ein
gewisses Maß von Beachtung beanspruchen darf.
Die (ungewöhnlich schöne) Komposition ist in sehr wesentlichen Grundzügen die gleiche
geblieben. Zwei in gleichem Winkel an den Kreuzesstamm gelehnte Leitern (eine senk-
recht stehende dritte im Hintergrund tritt nur wenig hervor) bilden ein steiles gleich-
schenkliges Dreieck, in dessen mit dem Mittellot der Bildtafel zusammenfallende Symme-
trale der in fast senkrechter Lage herabgelassene Körper Christi eingestellt ist und dessen
statische Ruhe der Dynamik der Figurenmassen zugleich Halt gewährt und Widerstand
leistet. Zum einen nämlich wird das Dreieck, dessen abstrakte Form, wenn man so sagen
darf, in den Leitern konkrete Gestalt gewann, von den bewegten Menschengestalten
lebendig erfüllt und gleichsam umrankt; so wird die für den herabsinkenden Christuskörper
1 Sie zeigt mit besonderer Deutlichkeit, wie sehr die Einordnung und Einschätzung gerade der Handzeichnungen in
älterer Zeit von ganz bestimmten typisierenden Bildungsvoraussetzungen abhängig war: wie der alte Sammler nur
eine ganz bestimmte Z eichnungsgattung als die für einen bestimmten Meister »typische« ansah und sich bei der
Benennung und Behandlung seiner Schätze von dieser Vorstellung leiten ließ (daher zum Beispiel die Handzeichnun-
gen Michelangelos, als deren typische Form die anatomisch durchgeführte Aktstudie galt, in den sehr zahlreichen
Fällen, in denen der Meister das Papier auf beiden Seiten benützte, fast immer so behandelt werden, daß die in
jenem Sinne »typische« Studie als Vorderseite erscheint, während die vom heutigen Standpunkt aus gesehen oft
interessantere, aber eben nicht im gleichem Maße »charakteristische« Versozeichnung als Rückseite galt und häufig
noch heute der Entdeckung harrt), so konnten auch bestimmte repräsentative Einzel werke für die Vorstellung eines
Künstlers eine so überragende Bedeutung gewinnen, daß auf der einen Seite ein Mann wie Daniele da Volterra dem
allgemeinen Bewußtsein nur mehr als Schöpfer der Kreuzabnahme in SS. Trinitä dei Monti gegenwärtig blieb, und
daß auf der andern Seite (dies ist unser Fall) jegliche Kreuzabnahme, bei der es zeitlich und örtlich einigermaßen
anging, als eine Arbeit des Daniele da Volterra betrachtet wurde.
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VON ERWIN PANOFSKY
Die in unserer Abbildung i zur Wiedergabe gelangende lavierte Federzeichnung gilt in
der graphischen Sammlung des Louvre als eine Schöpfung des Daniele da Volterra. Diese
Zuweisung, als solche für den Historiker des Kunstsammelns und der Kunsthistoriographie
nicht ohne Interesse1, ist, wie sich auf den ersten Blick herausstellt, eine irrige: das Lou-
vreblatt ist der Entwurf — oder besser die zur Vorlage an die Auftraggeber bestimmte
»Visierung« — für die Kreuzabnahme des Jacopino del Conte im Oratorio di S. Gio-
vanni Decollato (Abb. 2). Die in solchen Fällen stets aufzuwerfende Frage, ob es sich um
Vorzeichnung oder Nachzeichnung handle, ist hier sehr leicht im Sinne der ersteren
Möglichkeit zu entscheiden: die Federzeichnung weist dem Bilde gegenüber so viele, und
einerseits den allgemeinen Erfahrungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Entwurf
und Ausführung, anderseits aber der besonderen kunstgeschichtlichen Situation der Zeit
und des Autors so völlig entsprechende Veränderungen auf, daß an ihrer Priorität in keiner
Weise zu zweifeln ist. Und damit sind wir bereits in die Erörterung derjenigen Tatbe-
stände eingetreten, um derentwillen diese Zeichnung eines an und für sich nicht erst-
rangigen Meisters, von ihrer gleichwohl nicht geringen Individualbedeutung ganz abge-
sehen (denn der Künstler gehört innerhalb seiner Zeit zu den interessantesten, und unseres
Wissens ist eine andere Zeichnung seiner Hand bisher nicht bekannt geworden), doch ein
gewisses Maß von Beachtung beanspruchen darf.
Die (ungewöhnlich schöne) Komposition ist in sehr wesentlichen Grundzügen die gleiche
geblieben. Zwei in gleichem Winkel an den Kreuzesstamm gelehnte Leitern (eine senk-
recht stehende dritte im Hintergrund tritt nur wenig hervor) bilden ein steiles gleich-
schenkliges Dreieck, in dessen mit dem Mittellot der Bildtafel zusammenfallende Symme-
trale der in fast senkrechter Lage herabgelassene Körper Christi eingestellt ist und dessen
statische Ruhe der Dynamik der Figurenmassen zugleich Halt gewährt und Widerstand
leistet. Zum einen nämlich wird das Dreieck, dessen abstrakte Form, wenn man so sagen
darf, in den Leitern konkrete Gestalt gewann, von den bewegten Menschengestalten
lebendig erfüllt und gleichsam umrankt; so wird die für den herabsinkenden Christuskörper
1 Sie zeigt mit besonderer Deutlichkeit, wie sehr die Einordnung und Einschätzung gerade der Handzeichnungen in
älterer Zeit von ganz bestimmten typisierenden Bildungsvoraussetzungen abhängig war: wie der alte Sammler nur
eine ganz bestimmte Z eichnungsgattung als die für einen bestimmten Meister »typische« ansah und sich bei der
Benennung und Behandlung seiner Schätze von dieser Vorstellung leiten ließ (daher zum Beispiel die Handzeichnun-
gen Michelangelos, als deren typische Form die anatomisch durchgeführte Aktstudie galt, in den sehr zahlreichen
Fällen, in denen der Meister das Papier auf beiden Seiten benützte, fast immer so behandelt werden, daß die in
jenem Sinne »typische« Studie als Vorderseite erscheint, während die vom heutigen Standpunkt aus gesehen oft
interessantere, aber eben nicht im gleichem Maße »charakteristische« Versozeichnung als Rückseite galt und häufig
noch heute der Entdeckung harrt), so konnten auch bestimmte repräsentative Einzel werke für die Vorstellung eines
Künstlers eine so überragende Bedeutung gewinnen, daß auf der einen Seite ein Mann wie Daniele da Volterra dem
allgemeinen Bewußtsein nur mehr als Schöpfer der Kreuzabnahme in SS. Trinitä dei Monti gegenwärtig blieb, und
daß auf der andern Seite (dies ist unser Fall) jegliche Kreuzabnahme, bei der es zeitlich und örtlich einigermaßen
anging, als eine Arbeit des Daniele da Volterra betrachtet wurde.
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