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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1918)
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Avenarius, Ferdinand: Von Suggestion und Waffenseele: als zweien der "aktuellsten" Fragen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0019

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bilden sieht, so sieht er auch in der Massenseele keineswegs nur eine Summe
oder einen Durchschnittsgrad ihrcr Elementc, sondern anch Neubildungen.
Es gibt Ideen und Gefühle, die nur in den Massen auftreten oder sich in
Handlungen umsetzen. Und noch andere Merkmale eignen der Masscn- vor der
Einzelseele. Vor allerN, was uns ja zu den Massen führte: sie sind auf das
Höchste suggestibel, sie sind „der Spielball äußerer Reize". Sie sind so emp-
fänglich für „Eingebungen", daß die in ihre Phantasie aufgenommenen Bilder
wie Wirklichkeiten geglaübt werden und also wie Seiendes wirken. Dann: die
Gefühle der Massen sind so einfach wie möglich, es gibt nicht Zweifel noch An-
gewitzheit noch Vorbedacht für sie, sie sind deshalb auf das Anßerste unduld -
s a m. Sie sind übcrschwänglich, weil die Hcmmungen versagen. Sie drängen des-
halb auch znm unmittelbaren Verwirklichen der snggerierten Ideen. Die
Suggestion kann in wechselseitiger Ansteckung bis zn gemeinsamen Halluzina-
tionen wachsen. „Wer wagt zu bezweifeln, worüber alle einig sind?" Ferner:
da alle die V e r a n t w o r t u n g mittragen, fühlt sich das Verantwortungsgefühl
des einzelnen von allcn gedeckt. Auch die Kraft all dieser Vielen fühlt jeder als
seine Kraft. Ein Zustand der Faszination kann entstehen, der dann der Hypnose
verwandt ist. Er kann zu Anfopfernngen im Vkassen-Heroismus wie zu Ent-
setzenstaten des allgemeinen Wahns führcn. Bis zum „Selbstmorde Europas".

HsH^ir scheint, schon dieser alleroberflächlichste Äberblick läßt erkennen, daß sich
-/^^die Erschcinungen der Suggestion nnd des Massengeistes in ihrer Wichtigkeit
gar nicht überschätzen lassen.* Ich sagte: wir Dentschen wissen vom Suggerier-
kriege wohl, aber wir erleben ihn nicht so unmittelbar, daß seine furchtbare
Bedentung stündlich unser Handeln und Denken mitbestimmt. Die wissen-
schaftliche Nachprüfung der unbewußten Mitbestimmer im Menschengeiste ist
überhaupt noch viel zu jung, als daß sie sich schon in großen Kreisen selbst
wieder in jenes Unbewußte hineingearbeitet hätte, aus dem die Meinungen
nnd die Handlungen wachsen. In einem Grade, der nachfolgenden Geschlechtern
im eigentlichen Wortsinn kindlich erscheinen wird, benrteilen wir immer wieder
und allesamt noch das Menschenleben nach dem Wenigen, was über seinem
Unbewnßten bewußt geschieht. Es ist, nach dem alten Vergleich, wie wenn man
ein Gewässer mit allem Pflanzen- nnd Tierdasein, das in den Strömungen
seiner Ticfen lebt, liebt, käinpft, zu kennen glanbte, weil man das Leben des
dünnen Schichtleins Entengrütze sieht, das all das — vcrdeckt. Ich wäge mit der
Behauptung kanm zn viel: von zehn Menschen werden neun ihr
Weltbild in ganz wesentlichen Teilen verändern, wenn sie
die Bedeutung der Snggestion nnd der Ma ss e n P sy ch o lo g ie
so erfaßt haben, daß die neuen Erkenntnisse in ihnen selbst
beim Beobachten der Dinge fruchtbar geworden sind. Ietzt sehn
sie im wesentlichen einen alle und allcs umschlingenden Kampf offener und
verhüllter Interessen, der von den Interessenten planmäßig betricben wird.
Dann wcrden sie diesen Interessenkampf innerhalb eines rastlos arbcitendcn
unsichtbaren und unhörbaren Durcheinanders der Gehirne erkennen, eines Ge°
tricbes von Abcrmillionen drahtloser Abgabe- und Aufnahmeapparate aus

* Einige Schriften, die gemeinvcrständlich sind nnd doch näher an die Sache
heranführen: Gustave Le Bon, „Psychologie der Rassen" und „Psychologie
der Massen", das letztere und hier wichtigste Buch anch dentsch in der „Philo-
sophisch-soziologischen Bücherei" (Leipzig, W. Klinkhardt). Dann Loewenfeld,
„Die Suggestion in ihrer Bedeutung für den Weltkrieg" (Miesbaden, Bergmann).
Erwin Stransky, „Krieg nnd Geistesstörung" (ebcnda). „Zur Psychologie
nnd Psychopathologie der Legendenbildnng im Felde" (Wien, Perles). A. Hoche,
„Die Psychologie der Neutralität" (Freiburg i. B., Speher L Kaerner). Mir
scheint es allerdings, als wenn auch dicse Darstcllnngen, vielleicht mit Ausnahme
von Le Bons Bnch, die Macht der Suggestion immer noch nicht in ihrer wcltbe--
hcrrschcnden Bedeutung sähen.
 
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