Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1918)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Wandlungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0101

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
nicht in Moskau, nicht mehr als cin Streifchen des Russenlandes wurde von
Deutschen verwaltet, nicht ein Gegner ohne Heer und Mannschaft stand uns
gegenüber — und doch wankte das größte Landrcich der Erde. Wankte und
zerbrach. Allmählich ward uns bewutzt: auch drüben war der Doppelstrom
in Bcwegung gesetzt worden, auch drüben standen die Träncnkrüglein der
Witwen, Waisen, Verlassenen, Leidenden in entleerten Kellern und Räumen,
auch drüben waren Mangel und Not eingekehrt und jetzt angewachsen zu
Riesengrötze, auch drüben war Organisation in Revolution umgeschlagen. Das
Gcspenst der Weltrcvolution reckte sich. Aber war russische „Organisation"
mit deutscher Organisation vergleichbar? Nie würde die deutsche Revolution,
das ungeheure Ncuwcrden aller Dinge, übergehen in blinde Zerstörung und
kraftloses Zusammenbrechen. Wir hatten inzwischen den Unterseekrieg eröffnct,
das Hindenburg-Programm wurde durchgeführt, in zehn Tagen durchgeführt; fcster
als je war der Doppclstrom in der Hand unsrer Führer. Der Dorinerschlag jcnseits
dcs Ozeans hat wenige geschreckt. In sechs, in acht, in zehn Monaten werden die
U-Boote „es schaffen", so hicß es. Der Friede im Osten gab neuen, unübersehbarcn
Hoffnungen Raum. War die Resolution des Reichstags nicht Wahnsinn ge--
wcsen? Das Friedensbegchren nicht Verbrechen? Konnten wir nicht warten?
Warten, bis der letzte Gegner an unserer eisernen Haltung zerschellt war?
Hatte Michaelis nicht tausendfach recht, die Resolution in seinem ganz be°
stimmten Sinne aufzufassen? Hertling nicht, wenn er dcm Drängen der Linken
immer wieder hinhaltendes Zögern entgegensehte?

Tausende haben die Dinge so erlebt und so gesehen, Hunderttausende. Wie
sahen sie die andern? Ich spreche nicht von den Millionen, die nur litten,
nur „Objekt" waren, im Doppelstrom hilflos trieben, den einzigen Wunsch auf
den Lippen, datz ein Ende komme. Ich schweige von ihnen nicht aus Nicht-
achtung. Nur Dünkel und Anmaßung, seien sie auch behangen mit der Toga
„aristokratischer" Lebensanschauung und „herrschaftlicher" Gesinnung, können
an menschlichem Leid und menschlicher Hilflosigkeit vorbcisehen. Die Zukunft
wird mehr als Vergangenheit und Gegenwart alle Ernsten und Wollenden
zwingen, sie zu beachten und zu achten. Aber bis heute war ihr Blick vcr-
schleiert, ihr Wollen unklar. Die „Andcrn", deren Weltansicht jetzt herrscht,
sind nicht Massen, sondern Massenführer. Nicht Leidgebeugte, Kurzsichtige,
sondern Politiker. Was sahen sie? Die Vierbundmächte sind rings eingeschlos-
scn. Der Doppelstrom könnte nicht von jenseits dcr Meere unabsehbar ge°
spcist wcrden, wenn die heimischen Quellen versiegen würden. Die Gegner
konnten Rußland, Rumänien, Serbicn, sie konnten Frankreich und Italien
preisgeben, ohne bcsiegt zu sein. Wir konnten wohl Bulgarien, könnten schwer
dic Türkei, kaum österrcich-Angarn aus dem Bunde verlieren, ohne Gefahr zu
laufcn. Die europäischen Westmächte waren mit dem Aberfluß vcrbüudet, wir
mit dcm Mangel. Wir sahen die Grenzen, bis zu denen der Doppelstrom
würde gesteigert werden können, sie sahen sie nicht. Wir erfochten Siege im
Westen, wie im Anfang der blutigen Zeit. Alle hielten den Atem an. Würden
sie uns nach Paris, ans Meer bringen? And was dann? Friede, Gebiet-
erwerbungen, Entschädigungen? Oder neuen vierjährigen Krieg? Der Sieg
war uns „verbürgt" worden, seine Folgen nicht. Auf den Sieg folgte Nückzug.
Viellcicht sind wir stark genug, wieder vorzubrechen. Sann ständen wir aber-
mals vor der Frage, ob der Kriegswille, nicht nur die Kriegsmacht der
Fcinde durch Sicge zu brechen sein mag. Und würden dessen nur sichcr
sein, falls wir denselben Fricden anböten wie heute. Dcn Frieden anfrichtigcr
Vcrständigung, zu dem sich „über Nacht" Deutschlands leitende Männer ent-
schlossen. Nicht mehr die Leitenden dcr ersten vier Kriegsjahre. Männcr aus
den Reihen derer, die jene Nesolution gefaßt und deshalb ein Abermaß von
Beschimpfungen und Wut ertragen hatten, bis es von selbst «bbte. Dcrcr,
die mit der Zukunft, nicht nur mit der Gegenwart rechneten. Dcrer, di«
sich an das Ungeheure — nicht gewöhnt hatten.

Denn — was war geschehen? Wir im Lande, der Zentrale fern, kennen nicht

79
 
Annotationen