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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 3 (1. Novemberheft 1918)
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Schumann, Wolfgang: Wandlungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0102

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die Punkte, Linien, Flächen, aus dcnen sich das Weltbild des Kanzlers zu-
sanrmensetzt. Wissen nicht, wie es Mitte September an der Westfront, in
Palästina, in Persien, in Mazedonien, in Venetien, in den Vorratränmen des
Reichs, in dcn Menschenmillionen des Merbundes, in den Kabinetten der
Feinde aussah. Viele glauben, daß wir noch lange Krieg führen können.
Rehmen wir das an, trotz Bulgariens Abfall, trotz der Not der Änrken. Wir
dürfen es annehmen. Ein Volk, das vier Iahre hindurch siegte und dann in
Lebensgefahr gerät, ist vielleicht zu allem fähig. Was also ist geschehen? Die
Organisation ist in Revolution umgeschlagen. Ein gütiges Ge-
schick hat uns noch einmal davor bewahrt, daß diese Revolution blutig und ent-
mannend geworden wäre wie im Osten. Eine organisierte Revolution hat sich in
zehn Tagen vollendct. And hat bewirkt, daß mit einem Schlage Hunderttausende
sahen, was geschehen war. Daß die Zeit der Gewöhnung ans Ungeheure
weicht. Daß wir uns besinnen, wo wir stehen und wofür wir da stehen. Die
andern erblickcn nun mit Stauuen, welche gewaltigen Ziffern und Kräfte
hintcr den Trägern des neuen Willens stehen. Noch grollen sie. Vielleicht
werden sie noch einmal nach der Macht greifen, vielleicht sogar sie erringen.
Aber dann nicht für lange. Denn nicht iu unserm Lager allein ist Besinnung
aufgetreten. Auch drüben. In der Welt dämmert es, überall. Wir habcn
uns zerfleischt, haben ein Gewitter hcraufbeschworen, in dessen Toben unser ge°
ringcs Erdenglück zerbrechen mußte auf Iahrzehnte hinaus. Warum? War
irgendwo ein Volk, das dieses wollte? Ein Volk, nicht nur eine Klasse,
eine Regierung? And dieses, nicht nur cinen Kricg wie die Kriege des
sh. Iahrhuuderts? Die Besinnung sagt uns: nirgcnds!

Aus der Besinnung ist ein Friedensangebot entstanden, und zum ersten
Male ward ein solches nicht ohne Besinuung beantwortet. Zum ersten Male
hat auch der Gruud, zu hoffen, der nicht von Stimmungen und Wünschen,
soudern von Tatsachen ausgeht. Zu hoffen auf Frieden, nicht nur auf einen
Schritt zum Frieden hin. Kommt der Friede nun, so wird er anders aussehen,
als der auf den Landkartenplakaten unü in den Schriftcn, die seit drei Iahrcn
zu Zehntausenden im Reich umlaufen. Sehr anders. Auch Friedliebende
reinster Art fürchten, daß er bitter sein wird. Er wird wirklich noch bitterer
sein, als die Neubauzeit nach solchem Weltengcwitter in jedem Fall werden
muß! Wir wollen heute von anderm sprechen. Das Friedensangebot mit
dem Inhalt: Verstäudigung, Völkerbund, Abrüstung, Rückgabe — es ist ein
Äußcrliches. Die rasche Reflexbewegung eines Volkes, das sich besinnt. Das
Friedensinstrument wird ein Außerlichcs sein, der Lntwurf eines ueuen Hauses
für die Völker, vielleicht die erste Grundlegung dazu. Der Weltkricg hat
unser altes Haus zerschlagen, eingeäschert; das ist es, worauf wir uns be-
sonnen haben. Nun haben wir uns weiter zu besinncn. Zuerst darauf, daß
ein neues Haus nicht das Wichtigste im Leben ist. Vcrständigung, Völker-
bund, Abrüstung, das neue Haus ist sehr wohl denkbar in einer Ausführung,
die nichts bedeutet als: das alte Haus, mit schlechter Farbe ncu angestrichen.
Vielleicht denken sich viele bci uns und noch mehr bei den andern heute das
neue Haus so. Sie meinen: letzten Endes bleibt alles beim alten. Es wird
beim alten bleiben, wenn unsre Bcsinnung stehen bleibt, sobald der Friede
gesichert ist. Wir alle, jcder für sich, werden weitergehen müssen. Werden
noch einmal, und nun mit hellen Augen, das anschen müssen, was wir bis
zur Gcwöhuung stumpf erlebt haben, deu vicrzigjährigen Frieden, der kein
Friede war, den Rechtszustand vou einst, der dem Rechte Hohn sprach, den Ge°
waltzustand, der uns bis zur Besinnnglosigkcit übcrmannte: wir werden
das Nnrecht und den Wahnsinn begreifeu müsseu, die in diescr Zeit stecktcn,
uud die Schuld nicht nur der tätig Frevelnden, sondcrn auch unsrer lamm-
frommen Trägheit. Wir werdcn die Aufgabe begreifen müssen, daß nun in
Iahrhunderten Stück für Stück Nnrccht und Wahnsinn abzutuu, die Schuld
der Menschheit abzutragcn ist, daß die Welt voll neuer, schon durchdachter, viel
mehr aber: noch nie durchdachtcr Aufgaben ist. Wir werdeu begreifen müsseu,

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