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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 4 (2. Novembereft 1918)
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Ein Turgenjew-Strauß
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0141

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Venedig im Frühling

Venedig noch nie im April gesehen hat, der kennt wohl kanm die ganze
^^unbeschreibliche Pracht und Herrlichkeit dieser Zauberstadt. Wie die blen-
dcnde Sommersonne zum prächtigen Genua, wie das Gold und der Purpur
des Herbstes zu dem erhabenen greisen Rom, so stimmt die Lieblichkeit und
Weichhcit des Frühlings zu Venedig. Gleich dcm Frühling rührt und weckt
die Sckönbeit Venedigs geheime Wünsche; sie quält und neckt das uncrfahrene
Hcrz w»e die Verheißung eines nahen, kcineswegs rätselhaften, aber geheimnis-
vollen Glücks. Alles in Venedig ist klar, durchsichtig uud verständlich, alles
wird umweht von dem dämmernden Nebelschleier einer seltsamen, man möchte
sagen verliebten Stille, alles schweigt und alles blickt einen freundlich an; alles
ist frauenhaft, selbst der Name der Stadt, die nicht uinsonst die Herrliche heißt.
Die gigantischen Paläste und Kirchen strecken sich leicht und zauberhaft iu die
Höhe, wie der Traum eines juugen Gottcs. Etwas Märchenhaftes, seltsam
Fesselndes lebt in dcm grünlichgrauen Schimmer und den seidenweichen Farben
der stummen Wellen, die die Kanäle durcheilen, in dem sanften Dahingleiten
der Gondeln, und in der Stille, die von keinem groben Stadtlaut, keinem
Klirren, Stoßen und Rattern gestört wird.* „Venedig stirbt, Venedig wird
immer einsamer und öder", sagen auch seine Bewohner. Aber vielleicht ist
es gcradc diese letzte Pracht, dicser Rciz des Dahinwelkens mitten in dev
Blüte und Appigkeit dcr Schönheit, der dieser Stadt noch fehlte. Wer dicse
Schönheit nicht gesehen hat, der kennt sie nicht. Weder Lanaletto noch Guardi,
von den ncueren Malern gar nicht erst zu redeu, habeu es vermocht, diese
silberne Zartheit der Luft, diese immer fliehende und doch so nahe Ferne, diese
wnndcrbare Harmonie edelster Konturen und schmelzeuder Farben wiederzu-
geben. Menschen, die fertig mit dem Lebcn sind oder die Schiffbruch erlitten
habcn, sollten nicht nach Vcncdig gehn. Dcr Eindruck würde zu bitter für
sie sein, wie der Gedanke an unerfüllte Träume früherer Tage; süß ist Vcnedig
nur für den, dessen Adern noch von Kraft geschwellt sind, dcr sich noch wohl
und glücklich fühlt. Er mag sein Glück mitbringen nnter dicsen zauberhafteu
Himmel, und wenn es noch so strahlend ist, Vencdig wird es mit seinem un-
vergänglichen Glanze noch vergolden. Die Gondel glitt leise an der Riva dei
Schiavoni, dem Dogenpalast und der Piazetta vorbci, bis in den Eanale
grande. Zu beiden Seiten ragten herrliche Marmorpaläste. Sie schieuen lang-
sam vorbciznschweben, kaum daß der Blick Zeit faud, sie zu erfasseu und ihre
ganze Schönheit in sich aufzunehmen.

(Aus „Am Vorabend" sDNüllcrsche Ausgabe).)

Der Atternde

^Vrünschen Sie nicht in den Garten zn gehen?" fragte Kalitin Lawretzkh, „er
„ -^Vist jetzt recht hübsch, obgleich wir ihn etwas vernachlässigt haben."

Lawretzky begab sich dahin, und das erste, was ihm in die Augen ficl, war
jcncs Bänkchen, auf welchem cr einst mit Lisa einige glückliche, nie wieder-
kehrcnde Augenblicke verbracht hatte; es war ganz schwarz und schief geworden;
er erkannte es aber, und seiner Seele bemächtigte sich jenes Gefühl, dem
nichts, wcdcr in Freude noch im Lcid, gleichkommt, das Gcfühl lebhafter Trauer
über die Iugend, die verschwundcn, und das Glück, das man einst besessen.
Mit dcn jungen Leuten wandelte er durch die Alleeu: die Linden waren sn
dcn letzten acht Iahren etwas älter und stärker geworden, das Laubwerk dichter;
alle Büsche ringsum waren in dic Höhe gcschossen, die Himbcersträucher standcn
im vollen Saft, die Haselbüsche waren gänzlich verwildcrt, uud überall duftete
es nach Ginstcr, Laub, Gras und Flieder.

„Hier ließe sich's gut »Winkel« spielen," rief Lenotschka plötzlich, indem sie
auf einen kleinen, von Lindenbäumen umgebenen Nasenplatz trat, „wir sind
tzerade unsere fünf."

* Man vergißt nicht: Turgenjew schildert das Vencdig seiner Zeit. Ietzt
rattern bekanntlich die Motoren und schrillen die Pfeifen anch auf seineu
Kanälen.

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