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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 4 (2. Novembereft 1918)
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Ein Turgenjew-Strauß
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0142

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„And Fcdor Iwanitsch hast du übersehcn?" bemerkte der Bruder, .. oder
viclleicht zählst du dich nicht mit?"

Lenotschka errötete leicht.

„Kann denn aber Fedor Iwanitsch mit seinen Iahren . . entgegnete sie.

„Ich bitte Sie, spielen Si^," warf Lawrehky schnell dazwischen, „geben Sie
nicht acht auf mich. Mir selbst wird es angenehmer sein, wenn ich weiß, dah
ich Ihnen nicht hinderlich bin. Sie brauchen mich nicht zu nuterhalten; wir
Alten haben einen Zcitvertreib, den Sie noch nicht kennen und dem kein
andcrer gleichkommt: die Erinnerung."

Die jungen Leute hörten Lawrehkh mit freundlicher, wenngleich etwas spöt-
tischer Ehrerbictung an — ganz, als hätte ein Lchrcr ihnen eine Vorlesung
gehalten, und stoben dann alle auseinander, dcm Rasenplatze zu; es stclltcn
sich ihrcr viere an die Bäume, einer fahte in der Mitte Posto — und das
Trciben begann.

Lawrctzky kehrte unterdessen in das Haus zurück, trat in den Speisesaal,
näherte sich dem Klavier und bcrührte eine der Tasten; ein schwacher, doch
reiner Ton erklang und halltc still in seinem Hcrzen nach; das war die erste
Note jener begeisterungsvollen Melodic, durch wclchc vor langcn Iahren
Lemm, der verstorbene Lemm, ihn in jener glücklichen Nacht in so grohes Ent-
zückcn versetzt hatte. Dann begab sich Lawretzky in das Gastzimmer und blieb
lange dort; in diesem Zimmer, wo er Lisa so oft gesehcn hattc, trat ihr Bild^ü. ^
lebhafter vor scine Seele; ihm deuchte, er spüre rings umher die Spuren ö

ihrcr Gcgenwart; die Trauer um sie war aber peinigend und schwer, es
fehlte ihr die Ruhe, die das Andenken an Verstorbenc hinterläht. Lisa war
noch am Leben, aber sie weilte fcrn, an einem unbekannten Orte; er gedachte
ihrer wie einer Lebenden und konnte das junge Mädchcn, das cr cinstmals
geliebt hatte, nicht wiedererkennen in jenem undeutlichen Nebelgebilde im
Nonnengewand, von Wcihrauchwolken umhüllt. Lawretzky würde sich selbst
nicht erkannt haben, wenn er sich so hätte sehcn können, wie er in Gedanken
Lisa sah. Im Laufe dieser acht Iahre war in seinem Leben ein Wendepunkt
eingetreten, jener Wendepunkt, den viele nicht erleben; ohne ihn ist es nn-
möglich, bis ans Ende ein rechtschaffener Mensch zu bleibcn: er hatte in dcr
Tat aufgchört, auf seine persönliche Wohlfahrt bcdacht zu sein, eigennützige
Zwcckc im Auge zu haben. Er hattc Fricdcn mit sich selbst gcschlossen, und
— warum sollten wir es nicht bekennen — er war nicht bloß an Gesicht und
Körper, auch im Herzen war er älter gewordcn; bis ins Alter hinein ein
jugendliches Herz bewahren, wic manche zu sagen Pflegen, ist schwer und hat
etwas Lächerliches. Schon der kann sich glücklich schätzcn, dcr den Glauben an
das Gutc, die Kraft des Willens und die Lust an Tätigkeit nicht eingebüht
hat. Lawretzkh hatte ein Recht, zufricden zu scin: aus ihm war in der Tat
ein tüchtiger Landwirt geworden, der es verstand, den Acker zu pflügen, und
seine Kräfte nicht für sich allein nützte; soviel es in seiner Macht stand,
sicherte und festigte er die Lage seiner Bauern.

Lawretzkh trat aus dem Haus in den Garten, sehte sich auf das ihm bc-
kannte Bänkchen, und von diesem teurcn Platz aus, angcsichts jenes Hauses,
wo er zum letzten Male vergebens die Arme nach dem geweihten Becher
ausgestreckt hatte, in dem der, goldne Wcin der Lust perlte und schäumte,
schaute er, ein einsamer und obdachloser Wanderer, beim fröhlichen Iauchzen
eines jüngeren Geschlechtes, auf sein vergangencs Leben zurück. Trauer er°
füllte sein Herz, es war abcr frei von Angst und Reue, es gab etwas, worübcr
er Trauer empfinden durftc, nichts, worüber er hättc erröten müsscn. „Spiclct,
seid fröhlich, wachsct auf, ihr junges Volk", dacht« er, und nichts Bitteres lag
in seinen Gedanken, „das Leben beginnt erst für euch, und es wird euch leichter
fallcn als uns; ihr wcrdet nicht wie wir euch eine Bahn zu brechen haben,
kämpfcn, stürzen, wieder aufstehen müssen, mitten im Dunkel; unserc Sorge
war es, daß wir nicht zugrunde gerichtct wurden, und wie viele der unsrigen
sind zugrunde gegangen! Ihr aber müht ans Werk gehen, müht nrbeiten,
 
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