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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,2.1919

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Heft 12 (2. Märzheft 1919)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14376#0192

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vielen tüchtigen, braven und kundigen
Leuten, auch einigen Schwätzern und
Amterjägern inmitten einer nahezu ver-
zweifelten Gesamtlage. Deutschland ist
phhsisch und moralisch erschöpft, müde
unü verworren. Man durfte nach allem
dem furchtbareu Hungerleiden und den
moralischen Erschütterungen vielleicht
nichts anderes erwarten und kann froh
sein, wenn den auf dem Boden der
Demokratie geeinigten Elementen eine
leidliche Beruhiguug und Ordnung ge-
lingt. Für pathetische Erwartungen
und Aufforderungen ist in diesen nüch-
ternen Geschäftsdingen wenig Boden,
die Deutschen von heute wissen nichts
von großem uationalem oder politischem
Pathos. Pathos gibt es zwar scheffel-
weise iu der Presse und Literatur, aber
weder in den Seelen der großen Masse
noch in denen der parlamentarischen
Führer.

Diese trotz allem tüchtige, brave und
«twas bürgerliche Mittelmäßigkeit der
einzigen vorhandenen Konzentrations-
kräfte müßte unterstützt, belebt und er-
gänzt werden. Statt desseu werfen sich
aber die opponierenden Minderheiten
auf den giftigsten Krieg gegen sie. Auf
der einen Seite stehen die Bolschewisten
uud Unabhäugigen in mancherlei Aber-
gängen, auf der anderen die Alldeut-
schen, Konservativen, Schwerindustriel-
len usw.

Vor allem darf man bei der Oppo-
sition zur Linken die starke Beteiligung
von Intellektuellen nicht übersehen, so
widersinnig und selbstmörderisch sie auch
zunächst erscheinen mag. Zu ihr neigen
«in erheblicher Teil der Studenten, der
Literaten, die ganze künstlerische uird
literarische Boheme, die Differenzierten
und geistig Anspruchsvollen, hier in
Berlin ein guter Teil von Berlin W.,
nachdem er die ersten Plünderungs-
ängste überstauden hat. In Studenten-
versammlungen sind Zwischenrufe radi-
kal bolschewistischer oder, was freilich
gar nicht dasselbe ist, radikal pazi-
fistisch-internationalistischer Art die Re-
gel. Diese Iugend will Ideen und
Herrschaft der Ideen, Revolution der
Seele und des Geistes, eine völlig neue,
antihistorische und antibürgerliche Welt.
Mit dem Thema „Wo bleibt die Re-
volution der Seele?" ist neulich eine
der vielen Versammlungen dieser Art

einberufen worden. Oder andere Bei-
spiele aus der hiesigen Wirklichkeit.
Zwei elegante Herren trinken im
Restaurant eine Flasche Wein für
50 Mark und erklären sich in ihrer Un-
terhaltung für den Bolschewismus als
die einzige Macht der Idee. Ein
Diplomat erzählt mir von Gesprächen
mit Freundinnen vom Theater, die ihn
auslachten wegen seines Anschlusses an
die demokratische Partei; deutsch-natio-
nal könne man ja allerdings nicht sein,
aber „unabhängig" sei doch allein chic
und geistreich. Bedeutsamer war eine
große Versammlung vor kurzem in
einem hiesigen Salon, wo eine Reihe
bekannter Literaten, Gelehrter, Schau-
spieler, Politiker über den Bolschewis-
mus disputierten. Alles einigte sich
in dem Protest gegen den bürgerlichen
Charakter von Demokratie und Sozial-
demokratie. Man höhnte und lästerte
über die Nationalversammlung als
ideenlose Spießerversammlung; auch
bisher recht konservative Schriftsteller
beteiligten sich daran. Reine Marxisten
holten den alten Haß gegen bürger-
lichen Geist und bürgerliche Moral her-
aus; begeisterte Anarchisten vertraten
das Programm: durch den Kommunis-
mus zur Vollentfaltung der Indivi-
dualität, und zwar aller Individuali-
täten. Es ist ersichtlich: man kombi-
niert Marx, Anarchismus, Kommunis-
mus und den mwermeidlichen Nietzsche.
Durch den Kommunismus und die Zer-
schlagung der ganzen bisherigen Ord-
nung hindurch zum Abermeuschentum
aller Menschen, zur Vernichtung
der bürgerlichen Moral: das ist die
Losung. Daß sie schlechthin unsinnig,
widersinnig und widerspruchsvoll ist,
kümmert niemand. Sie ist Idee, Re-
volution, Geist, Radikalismus, Welt-
erneuerung und Zeichen eines nn-
abhängigen und interessanten Geistes.
Das genügt, und darnach verlangt man.
Ähnlich steht es ja auch mit den in-
tellektuellen Shndikalisten in Frank-
reich und Italien, halb Romantik und
halb Sadismus der Aberkultur. Wel-
ches die geistigen Inhalte einer der-
art befreiten Geistigkeit sein sollen, dar-
nach fragt man ebensowenig. Die
„Freiheit" .und „vollendete Individua-
lität" wird das alles schon von selber
besorgen. Der Sieg dieser Revolution
 
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