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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

DOI Artikel:
Ruppel, Karl Heinrich: Vom Erfassen der Plastik und Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0359

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PROFESSOR HEINRICH STKAEMER

S( milVKII IE HEI DER C.ARAOE

VOM ERFASSEN DER PLASTIK UND MALEREI

Man kann die merkwürdige Erfahrung ma-
chen, daß sich sehr viele Menschen recht
gut auf Malerei, verhältnismäßig wenige aber auf
Plastik verstehen. Ich nenne diese Erfahrung
merkwürdig, weil sie einer Grundtatsache der
künstlerischen Apperzeption widerspricht. Denn
zweifellos ist das Begreifen und Erfassen von
Plastik dem Menschen eingeboren (sofern er
überhaupt künstlerisch beeindruckbar ist); schon
in den Worten „Er-fassen, Be-greifen" ist eine
einfache, direkte sinnliche Betätigung ausge-
sprochen, schon die tastende Hand allein langt
zu, das „Begreifbare" und „Erfaßbare" wahr-
zunehmen. Die Malerei dagegen reduziert den
dreidimensionalen Raum auf die Fläche; sie führt
das Scheinelement in die Kunst ein, Plastik
dagegen ist wirklich; die Malerei ist illusionär,
die Plastik ist dinglich. Kein Zweifel, daß
ein primitives, saftiges und lebendiges Kunst-
empfinden zuerst auf das Dinglich-Runde, Da-
Seiende der Skulptur reagiert. Alle primitive
Kunst ist schöpferisch im Plastischen; wo eine

Vorstellung von wirkenden Wesen, Götter oder
Idole, im Bildlichen realisiert werden soll, ge-
schieht es im Plastischen. Immer war die Pla-
stik, wenn nicht zeitlich, so doch kunstpsycho-
logisch vor der Malerei da. Alle Völker von
einer unbedingten, lebendig verwirklichten Da-
seinsgewalt haben eine bedeutende Plastik ge-
habt: die Ägypter, die Babylonier und Assyrier,
die Griechen, die Italiener. Noch in der höfisch
kühlen Plastik der französischen Renaissance, in
der leidenschaftlich dargelebten Empfindung des
spanischen Barock lebt die plastische Eindring-
lichkeit jener großen Tradition fort. Die Gegen-
wart indessen, scheint es, spricht ihre künstleri-
schen Erlebnisse quantitativ und qualitativ im
Malerischen aus. Vielleicht, daß die illusionisti-
sche Vervollkommnung der Malerei — die nicht
auch eine künstlerische Vollendung zu bedeuten
braucht — die Menschen stumpfer, flüchtiger,
oberflächlicher im Aufnehmen von Kunstwerken
und -werten gemacht hat. Es ergibt sich der
merkwürdige Fall, daß die menschlichen Organe,

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