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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

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Michel, Wilhelm: Eine paradoxe Beobachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0073

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EINE PARADOXE BEOBACHTUNG

von wilhelm michel

Die paradoxe Beobachtung, von der ich
sprechen will, betrifft das Verhältnis der
modernsten Raumkunst zum Gemälde als Wand-
schmuck. Diese neueste Raumkunst, d. h. die
„Neue Sachlichkeit" in der Wohnungsgestaltung,
nimmt zweifellos der Kunst gegenüber eine be-
tont kühle Haltung ein.

Nun aber ereignet sich etwas Merkwürdiges:
gerade diese neuzeitlichen Räume, die sich an-
scheinend so kühl zur Kunst verhalten, bringen
das Bild als Wandschmuck ganz ausgezeichnet
zur Geltung. Sie liefern dem Gemälde einen
glänzenden Rahmen und auffallend günstige
WirkuDgsbedingungen. — Ich habe das Wort
„Wandschmuck" gebraucht, und ich muß nun
hinzufügen: diese neuzeitlichen Räume bringen
das Bild gerade nicht als Wandschmuck zur
Geltung, als dekoratives Element, das eigentlich
der Wand zuliebe da ist, sondern als beseeltes
Eigengeschöpf, als Kunstwerk. Und tun ihm
damit einen wesentlichen Dienst. Gerade weil
diese Möbel und Räume so kühl zur Kunst
stehen, gerade weil sie für sich nichts eigentlich
Künstlerisches, Beseeltes sein wollen, heben sie,
durch Kontrast, das Kunstwerk an der Wand

mit ganz besonderer Energie hervor. Früher
hat es sich im Innenraum oft ereignet, daß das
Kunstwerk inmitten einer Fülle von Möbeln,
Wandbehängen, Kleinkunst gar nicht mehr zur
Geltung kam, weil diese ganze Nachbarschaft für
sich schon Kunstwert und geistig-formale Be-
deutsamkeit beanspruchte. Im neuen Innenraum
aber, auf einer wenig überschnittenen, meist
hellen Wand, zwischen Möbeln, die Klarheit
und Präzision, wohl gar technische Form an-
streben, ist das Kunstwerk wirklich der hoch-
geborene Gast aus einer anderen Sphäre. Seine
Wirkung kommt dicht und voll daher, sie prägt
sich mit ihrer Sonderart mächtig ein, sie wirkt
wie eine unerwartete, aber dafür um so be-
glückendere Begegnung. Der moderne Innen-
raum, einerlei ob er es weiß oder nicht, nimmt
das Kunstwerk ernster als viele seiner Vor-
gänger; er nimmt es eigentlicher, er erkennt
es offener und bereitwilliger an.

Moderner Innenraum und Kunstwerk schlie-
ßen also nicht einander aus; vielmehr erweisen
sie durch ihr glückliches Zusammenwohnen,
daß sie in einer besonders echten und innigen
Weise zu einander gehören......... w. m.

Xx-XII. Oktober 1938. 7
 
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