Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Der Geist der Plastik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0404

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER GEIST DER PLASTIK

VON WILHELM MICHEL

In Baudelaires kunstkritischen Schriften liest
man, daß die Kunst der Plastik neben einem
sehr vollkommenen technischen Können vor
allem eine „sehr hochgezüchtete Geistigkeit"
(spiritualite) verlange; denn ihre „göttliche Be-
deutung" bestehe darin, daß sie die Menschen
„mahnen solle an die Dinge, die nicht von dieser
Erde sind".

Es ist zunächst nur die hohe geistige Grund-
anschauung von der Plastik, wegen deren wir
dieses Wort hier anführen. Denn auch wir
möchten die Meinung vertreten, daß der Ab-
grenzung der verschiedenen Kunstgebiete gei-
stige Vorentscheidungen zugrunde liegen. Es
gibt Künstler mit einer „malerischen", es gibt
Künstler mit einer „graphischen" und einer
„skulpturalen" Weltanschauung.

Wie werden wir eine „skulpturale" Welt-
anschauung zu charakterisieren haben?

Die Kunst der Plastik hat ihren höchsten
Stand im alten Griechenland erreicht. Wir sind
uns bewußt, etwas gegen den Geist unserer
Zeit zu wagen, indem wir dies aussprechen.
Denn eine relativistische Zeit wird immer wieder
darauf zurückkommen müssen, daß alle Wert-
ungen in Dingen der Kunst nur einstweilige, be-
dingte, abhängige Wertungenseinkönnen. Trotz-
dem behaupten wir, daß jeder Blick auf die
Plastik des Olympiatempels, auf die Krieger vom
Aeginetenfries, auf die Gestalten des Polyklet
in jedem Europäer von neuem die Überzeugung
erweckt, — daß hier ein Letztes und Endgültiges
vorliegt. Nicht ein Letztes im Sinne der Zeit,
so daß es nicht mehr abgewandelt, abgetönt
werden könnte, wohl aber ein Letztes an Eigent-
lichkeit und Dichtigkeit plastischer Form, ein
Letztes an Erfüllung der skulpturalen „Idee".
Man kann das beweisen, soweit sich in Dingen
der Kunst überhaupt etwas beweisen läßt. Man
kann beweisen, daß hier Inhalt und Form haar-
scharf zusammenfallen; daß die Materie ganz
genau so weit reicht wie der in ihr bildende
Geist; daß nichts an „Geist" oder an „Seele"
über den vomStein erfüll tenRaum hinausschwillt;
daß kein Partikelchen der Materie leer, trocken,
unbeseelt geblieben ist. Keine Sehnsucht, kein
Verlangen greift über den Bereich der Materie
hinaus. Alles an dieser Plastik ist ruhende, voll-
kommen erfüllte, ewige Gegenwart. Diese For-
men sind vollkommen aus dem strömenden Wer-
den herausgezogen und ins dauernde „Sein"
gerettet. Das Leben ist endgültig in ihnen fest-

gemacht. Diese Formen stehen da wie Bastio-
nen gegen die kosmische Nacht; sie haben einen
kriegerischen, einen heroischen Sinn. Jeder
Brustkasten ist hier ein Panzer, jedes Schien-
bein eine Erzplatte, jeder Kopf ein wehrhafter
Helm. Das Reich des Vergehens liegt außer-
halb dieser Formen. Sie erheben sich in ebenso
glänzender Dauer und Verbrüderung wie die
platonischen Ideen, die Urbilder undUrbewirker
aller Dinge. Sie sind der höchste Ausdruck der
Festigkeit in allem menschlichen Leben. Was
in ihnen hervortritt, konnte weder gemacht noch
gezeichnet werden, es mußte sich des Steines
bedienen, weil dieser im Reich der Stoffe den
gleichen Willen zu Dauer und unveränderlicher
Gegenwart bekundet.

Gehen wir von hier zu der Frage über, wel-
ches die geistigen Voraussetzungen einer solchen
Kunst sind, so kann die Antwort nur eine sein:
diese Art von künstlerischer Festmachung kann
nur der festgemachte Mensch leisten; der
Mensch, der aus dem großen Strömen heraus-
getreten ist und sich ins ruhende „Sein" be-
geben hat; der platonische Mensch, der elea-
tische Mensch, der mit dem entscheidenden
Teil seines Wesens in der Dauer lebt und die
Bewegung und Veränderung geradezu leugnet;
derMensch, der sichnicht kindlich an dengroßen,
alle Grenzen überflutenden Zusammenhang hin-
gegeben hat, sondern der sich männlich und
heldenhaft in seiner eigenen Gestalt behauptet.
Mit einem Wort: der heidnische Mensch, der
die einschmelzenden Kräfte der christlichen
Gotteserkenntnis noch nicht erfahren hat, son-
dern noch voll und naturhaft aus dem eigenen
Wesen lebt; vor allem auch aus dem eigenen
Geist, der seine Geschaffenheit noch nicht er-
kannt und den großen Ruf zur Unterwerfung
und Demut noch nicht vernommen hat. Mensch-
licher Stolz ist es, der Formen solchen äußer-
sten Ranges hervorbringt; Stolz im metaphy-
sischen Sinne, als heroische Behauptung der
menschlichen Eigenheit,, Gestalt und Würde
gegen alle auflösenden Kräfte; jener Stolz, der
dem Griechen zur Pflicht gemacht war und der
ihn erfüllen mußte, weil ja die Liebeskraft, die
ihn allein aufzulösen berechtigt war, noch nicht
gesehen, noch nicht erfahren und benannt war.
Im Christentum heißt es (nach einem Wort von
de Maistre): „Der Stolz allein ist es, der zwi-
schen Gott und dem Menschen steht". Das
bedeutet, daß für die nachantike Welt dieser
 
Annotationen