Das kurzlebige Wohnhaus
kate louise rosenstock—leipzig »seidendecke mit tüllstickerei c
soweit sie bestehen bleiben, sind sie nicht ge-
sichert gegen die verwandelnden Kräfte der
Zeit, die fortwährend die Fabrikationsmethoden
ändern, Krisen herbeiführen, alte Erwerbs-
zweige unrentabel machen, neue dafür ins Le-
ben rufen. Der gewaltige, soziale Umschich-
tungsprozeß, der schon während des Krieges
eingesetzt hat, geht seinen Gang weiter.
All dies wirkt zusammen, um dem langlebigen
Wohnhaus den Boden zu entziehen. Nicht nur
materiell, sondern auch geistig. Die Generationen
trennen sich von einander; jede hat für sich
selbst zu sorgen. War das langlebige Wohn-
haus ein Ausdruck der festen Zusammenhänge
zwischen Vätern und Kindern, Menschen und
Boden, Beruf und Wohnort, so wird das kurz-
lebige Wohnhaus zum Ausdruck der zahlreichen
Ablösungen, Trennungen und Vereinzelungen,
die sich täglich in unserem Leben ereignen.
Gewiß schlagen sich dafür wieder neue Ver-
bindungen anderer Art; so löst die Verkehrs-
technik den Menschen zwar vom Boden, fügt
ihn aber fester in andre, fluktuierende Zusam-
menhänge ein. Aber das Wohnhaus ist nun
einmal eine Sache des Bodens. Alle wandeln-
den und wandernden Kräfte, wie sie in so
großer Zahl in unserer Zeit das Leben beherr-
schen, wirken ihm entgegen.
So steht also das aus der Zeit für die Zeit
entstandene Wohnhaus sinnvoll im Zusammen-
hang des modernen Lebens. Die Verbilligung
vieler Waren bei gleichzeitiger Verteuerung der
Reparaturkosten hat ja auch in anderem Bereich
zu einer völlig neuen Gebrauchs- und Ver-
brauchsökonomie geführt. Heute ist die Ware
grenzenlos beweglich und zugänglich geworden,
das unruhige Element der Mode hat sie restlos
ergriffen, und der Mensch selbst hat gelernt,
sich zu den Dingen seines Gebrauchs beweg-
lich und höchst subjektiv zu verhalten. Der
Augenblick ist Herr; in der Gegenwart sind wir
zu leben gezwungen, nicht mehr in Vergangen-
heit und Zukunft. Bedeutet dies eine teilweise
Verarmung der Menschheit, so gibt es doch
kein Mittel, sich ihr zu entziehen. Die Notwen-
digkeiten unsres Daseins sprechen da eine ge-
bieterische Sprache. Und es gilt anzuerkennen,
daß uns die neue Bauweise nichts nimmt, was
uns im Grunde nicht schon längst genommen
ist. Sie erleichtert uns im Gegenteil das Leben
durch Anpassung des Wohnbaues an die Be-
dingungen, die unser Dasein regieren. . . h. r.
kate louise rosenstock—leipzig »seidendecke mit tüllstickerei c
soweit sie bestehen bleiben, sind sie nicht ge-
sichert gegen die verwandelnden Kräfte der
Zeit, die fortwährend die Fabrikationsmethoden
ändern, Krisen herbeiführen, alte Erwerbs-
zweige unrentabel machen, neue dafür ins Le-
ben rufen. Der gewaltige, soziale Umschich-
tungsprozeß, der schon während des Krieges
eingesetzt hat, geht seinen Gang weiter.
All dies wirkt zusammen, um dem langlebigen
Wohnhaus den Boden zu entziehen. Nicht nur
materiell, sondern auch geistig. Die Generationen
trennen sich von einander; jede hat für sich
selbst zu sorgen. War das langlebige Wohn-
haus ein Ausdruck der festen Zusammenhänge
zwischen Vätern und Kindern, Menschen und
Boden, Beruf und Wohnort, so wird das kurz-
lebige Wohnhaus zum Ausdruck der zahlreichen
Ablösungen, Trennungen und Vereinzelungen,
die sich täglich in unserem Leben ereignen.
Gewiß schlagen sich dafür wieder neue Ver-
bindungen anderer Art; so löst die Verkehrs-
technik den Menschen zwar vom Boden, fügt
ihn aber fester in andre, fluktuierende Zusam-
menhänge ein. Aber das Wohnhaus ist nun
einmal eine Sache des Bodens. Alle wandeln-
den und wandernden Kräfte, wie sie in so
großer Zahl in unserer Zeit das Leben beherr-
schen, wirken ihm entgegen.
So steht also das aus der Zeit für die Zeit
entstandene Wohnhaus sinnvoll im Zusammen-
hang des modernen Lebens. Die Verbilligung
vieler Waren bei gleichzeitiger Verteuerung der
Reparaturkosten hat ja auch in anderem Bereich
zu einer völlig neuen Gebrauchs- und Ver-
brauchsökonomie geführt. Heute ist die Ware
grenzenlos beweglich und zugänglich geworden,
das unruhige Element der Mode hat sie restlos
ergriffen, und der Mensch selbst hat gelernt,
sich zu den Dingen seines Gebrauchs beweg-
lich und höchst subjektiv zu verhalten. Der
Augenblick ist Herr; in der Gegenwart sind wir
zu leben gezwungen, nicht mehr in Vergangen-
heit und Zukunft. Bedeutet dies eine teilweise
Verarmung der Menschheit, so gibt es doch
kein Mittel, sich ihr zu entziehen. Die Notwen-
digkeiten unsres Daseins sprechen da eine ge-
bieterische Sprache. Und es gilt anzuerkennen,
daß uns die neue Bauweise nichts nimmt, was
uns im Grunde nicht schon längst genommen
ist. Sie erleichtert uns im Gegenteil das Leben
durch Anpassung des Wohnbaues an die Be-
dingungen, die unser Dasein regieren. . . h. r.