EGON SCHIELES ZEICHNUNGEN
ZUR ZEHNTEN WIEDERKEHR SEINES TODESTAGES
VON WOLFGANG BORN—WIEN
Der Tod war sein Gefährte von je, wuchs
und reifte mit dem Werdenden, und als er,
eben angelangt auf der Höhe jugendlicher Vol-
lendung, starb, war sein Gesetz erfüllt. Am
31. Oktober 1918 raffte ihn, drei Tage nach
seiner geliebten Frau, die Grippe hinweg, furcht-
bare Nachlese haltend unter denen, die dem
Massengrab des Krieges entronnen waren. In
die armen achtundzwanzig Jahre seines Daseins
drängte sich verzweifelter Kampf undstürmischer
Aufstieg zusammen. Seine Kunst stieß zunächst
auf erbitterten Widerstand; die Identität seiner
Erscheinung mit dem verborgenen Problem der
Epoche erschreckte die Zeitgenossen — eine
Reaktion, die mit Notwendigkeit in Bejahung
umschlagen mußte, als die Erkenntnis dieser
Grundlagen Gemeingut wurde. Vergessen wir
nicht: Egon Schieies Entwickelung ist an Wien
gebunden und fällt zeitlich mit einem Teil der
Forschertätigkeit Sigmund Freuds zusammen.
Im Jahre 1900 war die „Traumdeutung" er-
schienen, der Angelpunkt des psychoanalytischen
Weltbildes, das zum ersten Male die schicksal-
hafte Rolle der Sexualität aufdeckte. Was die
Wissenschaft induktiv erkannte, gestaltete in-
tuitiv die Kunst. Fern von jedem Intellektu-
alismus ging der junge Egon Schiele naiv seinen
Weg als Maler auf ein Ende zu, das er nicht
kannte. Die verspielte Kalligraphie seines
Striches, die als Zynismus mißverstandene Hem-
mungslosigkeit seiner erotischen Neugier, die
verblüffende Unbefangenheit, mit der er Vor-
bilder und Anregungen assimilierte, sind die Er-
lebnis- und Ausdrucksformen eines Kindes.
Nur war dieses Kind ein erwachsener Künstler
von gewaltigem Talent, höchst sensibel, unbe-
stechlichen Blickes und fanatisch im Verlangen
nach Eindringlichkeit der Darstellung.
Aus diesen psychischen Voraussetzungen er-
hellt erst der befremdliche Charakter seines
Werkes. Die Überwertigkeit der erotischen
Sphäre entspringt einer Fixierung an die Puber-
tät — und hier, in der selbstzerstörerischen
Verbissenheit dieser Konflikte lauert die Auf-
XXXII. November 1928. i'
ZUR ZEHNTEN WIEDERKEHR SEINES TODESTAGES
VON WOLFGANG BORN—WIEN
Der Tod war sein Gefährte von je, wuchs
und reifte mit dem Werdenden, und als er,
eben angelangt auf der Höhe jugendlicher Vol-
lendung, starb, war sein Gesetz erfüllt. Am
31. Oktober 1918 raffte ihn, drei Tage nach
seiner geliebten Frau, die Grippe hinweg, furcht-
bare Nachlese haltend unter denen, die dem
Massengrab des Krieges entronnen waren. In
die armen achtundzwanzig Jahre seines Daseins
drängte sich verzweifelter Kampf undstürmischer
Aufstieg zusammen. Seine Kunst stieß zunächst
auf erbitterten Widerstand; die Identität seiner
Erscheinung mit dem verborgenen Problem der
Epoche erschreckte die Zeitgenossen — eine
Reaktion, die mit Notwendigkeit in Bejahung
umschlagen mußte, als die Erkenntnis dieser
Grundlagen Gemeingut wurde. Vergessen wir
nicht: Egon Schieies Entwickelung ist an Wien
gebunden und fällt zeitlich mit einem Teil der
Forschertätigkeit Sigmund Freuds zusammen.
Im Jahre 1900 war die „Traumdeutung" er-
schienen, der Angelpunkt des psychoanalytischen
Weltbildes, das zum ersten Male die schicksal-
hafte Rolle der Sexualität aufdeckte. Was die
Wissenschaft induktiv erkannte, gestaltete in-
tuitiv die Kunst. Fern von jedem Intellektu-
alismus ging der junge Egon Schiele naiv seinen
Weg als Maler auf ein Ende zu, das er nicht
kannte. Die verspielte Kalligraphie seines
Striches, die als Zynismus mißverstandene Hem-
mungslosigkeit seiner erotischen Neugier, die
verblüffende Unbefangenheit, mit der er Vor-
bilder und Anregungen assimilierte, sind die Er-
lebnis- und Ausdrucksformen eines Kindes.
Nur war dieses Kind ein erwachsener Künstler
von gewaltigem Talent, höchst sensibel, unbe-
stechlichen Blickes und fanatisch im Verlangen
nach Eindringlichkeit der Darstellung.
Aus diesen psychischen Voraussetzungen er-
hellt erst der befremdliche Charakter seines
Werkes. Die Überwertigkeit der erotischen
Sphäre entspringt einer Fixierung an die Puber-
tät — und hier, in der selbstzerstörerischen
Verbissenheit dieser Konflikte lauert die Auf-
XXXII. November 1928. i'