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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

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Michel, Wilhelm: Der Künstler und der "Bürger"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0310

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Der Künstler und der »Bürger«.

Heute liegen die Dinge ganz anders. Die
antibürgerlichen, die protestierischen Typen
sind aus der Kunstwelt verschwunden; der Stil
der Besitzenden, der Stil der ehedem so
verspotteten „Bürger" ist obenauf gekommen
und wird selbst von unbegüterten Intellektuellen
praktisch anerkannt, wenigstens im äußeren
Auftreten. Was hat sich da verändert? Nur
etwas Äußeres, nur eine Gebärde oder Mode?
Keineswegs. Sondern die Veränderung liegt
darin, daß der „Geist" inzwischen mit der
Wirklichkeit (Welt und Leben) seinen Frieden
geschlossen hat, daß er sich in sie einzusenken,
sie zu verstehen und zu deuten strebt. Was
früher „Gegenspiel" war (um in der Sprache
des Dramas zu reden), wird heute „Spiel". Was
früher im Schatten, in der Verneinung stand,
wird zum führenden Motiv. Der Mensch von
heute sucht das Leben, die Wirklichkeit zu ver-
stehen, er bekennt sich zu ihr, und zwar be-
kennt er sich gerade zu dem Bestandteil in ihr,
der zu den Vorstellungen und Forderungen des
reinen „Geistes" im Widerspruch steht; und
zwar gilt diese Veränderung nicht nur für die
Kunst, sondern für alle Bereiche geistiger Be-
tätigung. Deshalb haben die Protest-Typen an

Werbekraft verloren und sind schließlich in die
Rumpelkammer der Geistesgeschichte gewan-
dert. Der Geist weiß heute um die Berech-
tigung der bürgerlichen Lebensform. Ja, er muß
ihr das große Zugeständnis machen, daß selbst
der geistigste Mensch das Dasein nicht immer
frisch, nicht immer „ergriffen" und völlig bewegt
leben kann, daß auch für ihn die Funktion der
„Verbürgerung" unentbehrlich ist, d. h. die
Funktion der Auswertung und Anwendung, der
Verhärtung und Verfestigung, der euphemisti-
schen Umprägung. Keiner kommt ohne gewisse
bürgerliche Bestandteile in seinem Leben aus.

Dieses Wissen, diese Anerkennung ist es,
die heute die bürgerliche Lebensform von einer
Reihe ihrer ehemals grimmigsten Feinde befreit
hat. In dem Augenblick, wo der Geist die
Wirklichkeit wahrhaft zu ergreifen strebte, hat
der „bürgerliche" Lebensstil über den Stil der
Protestler den Sieg davon getragen. Das ist
die tiefere Bedeutung der Veränderung, von
der hier gesprochen wurde.

Wie lange sich freilich dieser neue Zustand
halten wird, ist eine andere Frage. Sicher
scheint nur, daß der alte sobald nicht wieder-
kehren wird.................... w. m.

ARCHITEKT FRITZ FUSS-KÖLN. »SCHREIBTISCH IM WOHNRAUM«
 
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