Talent
tat, trotz dem Ta-
lent — deshalb
nämlich, weil das
Ausgesagte nicht
aus einer grund
legenden mensch-
lichen Befugnis
kommt. Das Ta-
lent, das sich so-
gar zur Wahrheit
biegen läßt, wie
ein schlechter, aber
geschickter Rich-
ter zum Unrecht
— das Talent hat
eine der Wahrheit
gleichende Schutz-
farbe angenom-
men; in verhäng-
nisvoller Weise
fällt dergleichen
dem Talent leicht;
es hat aber nicht
die Wahrheit selbst
angenommen. Dies
ist ein Phänomen
gerade unserer
Zeit: der Überfluß
an Talenten, die
aus Überfluß an
Talent auch die
Wahrheit scheinen
sagen zu können,
aber tatsächlich
nur Mimikry ver-
mögen. Um die
Wahrheit sagen zu
können, sei es im
Bilde, in der So-
nate, im Gedicht,
muß man mehr ha-
ben als „Talent":
nicht gerade „Ge-
nie", aber eine mit
hohen Kosten be-
glichene menschliche Berufung. — Talente, die
dies fühlen, sind immer gewesen. Immer war
es ihre Sorge, sich nicht aus der zweiten Reihe
vorzudrängen — mehr zu schweigen als zu
reden. Sie merkten, daß es immer darauf an-
kam, das Talent mit dem menschlichen Wert
im Gleichschritt zu halten: das Talent nicht
über das Herz hinauswuchern zu lassen. So
entstanden Werke, die schön sind; die liebens-
wert sind, ob sie auch nicht hinreißen; die
Maßstäbe bedeuten, obwohl oder weil sie selbst
gemäßigt sind. Es gibt viele Landschafter und
OSWALD POETZELBERGER—MINCHEN. »FRAUEN-PORTRAT«
Stillebenmaler und
Bildnismaler dieser
tief sympathischen
Gattung. Es ge-
nügte ihnen, das
Ihre, genau das
Ihre (im Gleichge-
wicht von Talent
und Menschlich-
keit) zu tun und im
übrigen zu begrei-
fen, daß das Genie
an einem höheren
Orte steht. — Das
Genie .... Denn
allerdings ist die
Kunst beim Genie
am besten aufge-
hoben. Doch auch
für das Genie gilt
noch, was hier für
das Talent gesagt
worden ist. Es gibt
Genies der bloßen
Anschauung; Ge-
nies des maleri-
schen Nachdrucks
mit der Hand —
eines Nachdrucks,
der stärker ist als
der Nachdruck des
bloßen Talents; es
gibt Genies des
bloßen Gehörs. In-
dessen, Genie im
vollen Sinn des
Wortes ist nur da,
wo das Genie des
Blicks, des Ohrs,
des dichterischen
Begriffes, Genie
jeglicher Phantasie
mit dem Genie des
Herzens vereint,
dem Genie des Ge-
wissens gleich ist. Das geniale Gewissen (es ist
sehr selten, aber auch die wichtigste Form des
Menschen) vermag sogar aus einem Menschen
mit ungenialem Auge, mit ungenialer Hand
einen genial bildenden Künstler zu machen: dies
ist die beweisende Verfassung des van Gogh.
In ähnlichem Sinne ist Genie (also mehr als
„genialisch", mehr als geniehaft) der Weisling en
des Goetheschen „Götz" für den einen, ein-
zigen Moment, in dem er sagt: er wisse jetzt,
was den Dichter mache — ein volles, ganz von
einer Empfindung volles Herz........ w. h.
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tat, trotz dem Ta-
lent — deshalb
nämlich, weil das
Ausgesagte nicht
aus einer grund
legenden mensch-
lichen Befugnis
kommt. Das Ta-
lent, das sich so-
gar zur Wahrheit
biegen läßt, wie
ein schlechter, aber
geschickter Rich-
ter zum Unrecht
— das Talent hat
eine der Wahrheit
gleichende Schutz-
farbe angenom-
men; in verhäng-
nisvoller Weise
fällt dergleichen
dem Talent leicht;
es hat aber nicht
die Wahrheit selbst
angenommen. Dies
ist ein Phänomen
gerade unserer
Zeit: der Überfluß
an Talenten, die
aus Überfluß an
Talent auch die
Wahrheit scheinen
sagen zu können,
aber tatsächlich
nur Mimikry ver-
mögen. Um die
Wahrheit sagen zu
können, sei es im
Bilde, in der So-
nate, im Gedicht,
muß man mehr ha-
ben als „Talent":
nicht gerade „Ge-
nie", aber eine mit
hohen Kosten be-
glichene menschliche Berufung. — Talente, die
dies fühlen, sind immer gewesen. Immer war
es ihre Sorge, sich nicht aus der zweiten Reihe
vorzudrängen — mehr zu schweigen als zu
reden. Sie merkten, daß es immer darauf an-
kam, das Talent mit dem menschlichen Wert
im Gleichschritt zu halten: das Talent nicht
über das Herz hinauswuchern zu lassen. So
entstanden Werke, die schön sind; die liebens-
wert sind, ob sie auch nicht hinreißen; die
Maßstäbe bedeuten, obwohl oder weil sie selbst
gemäßigt sind. Es gibt viele Landschafter und
OSWALD POETZELBERGER—MINCHEN. »FRAUEN-PORTRAT«
Stillebenmaler und
Bildnismaler dieser
tief sympathischen
Gattung. Es ge-
nügte ihnen, das
Ihre, genau das
Ihre (im Gleichge-
wicht von Talent
und Menschlich-
keit) zu tun und im
übrigen zu begrei-
fen, daß das Genie
an einem höheren
Orte steht. — Das
Genie .... Denn
allerdings ist die
Kunst beim Genie
am besten aufge-
hoben. Doch auch
für das Genie gilt
noch, was hier für
das Talent gesagt
worden ist. Es gibt
Genies der bloßen
Anschauung; Ge-
nies des maleri-
schen Nachdrucks
mit der Hand —
eines Nachdrucks,
der stärker ist als
der Nachdruck des
bloßen Talents; es
gibt Genies des
bloßen Gehörs. In-
dessen, Genie im
vollen Sinn des
Wortes ist nur da,
wo das Genie des
Blicks, des Ohrs,
des dichterischen
Begriffes, Genie
jeglicher Phantasie
mit dem Genie des
Herzens vereint,
dem Genie des Ge-
wissens gleich ist. Das geniale Gewissen (es ist
sehr selten, aber auch die wichtigste Form des
Menschen) vermag sogar aus einem Menschen
mit ungenialem Auge, mit ungenialer Hand
einen genial bildenden Künstler zu machen: dies
ist die beweisende Verfassung des van Gogh.
In ähnlichem Sinne ist Genie (also mehr als
„genialisch", mehr als geniehaft) der Weisling en
des Goetheschen „Götz" für den einen, ein-
zigen Moment, in dem er sagt: er wisse jetzt,
was den Dichter mache — ein volles, ganz von
einer Empfindung volles Herz........ w. h.
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