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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

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Michel, Wilhelm: Der Geist der Plastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0407

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Der Geist der Pias,

Stolz sein Wertzeichen unwiederbringlich ver-
loren hat; für sie ist es Plicht, den Stolz aufzu-
geben und den ungeheuren Zusammenhang an-
zuerkennen. Überall, wo Christentum nicht
bloß Lippenbekenntnis, sondern Wahrheit ist,
schmilzt es den Stolz, die Eigenheit des Men-
schen in ganz bestimmter Weise ein; nicht
seine Individualität, sondern den Glauben, daß
seine Eigenheit letzte und grundlegende In-
stanz sei. Und eben damit schmilzt es auch
die Kräfte ein, die vordem zum Äußersten
des Heroismus, zum Äußersten der plastischen
Form führen konnten. Die geistige Grundhaltung
der Plastik, und zwar nur der Plastik im höch-
sten Sinne, ist heidnischer Art: Heidnischer
Geistglaube; Glaube an die geistige Selbstherr-
lichkeit des Menschen; und zwar nicht Glaube
eines Einzelnen, etwa des Künstlers, sondern
einer ganzen Zeit, eines ganzen Kulturkreises.
Die Haltung der echten, der extremen Plastik
verbindet sich daher mit dem, was wir das
Promet heische, das Titanische nennen: der
Mensch, der die Ewigkeit und Selbständigkeit
des in ihm lebenden Geistes stark gefühlt hat,
stellt sich der heidnischen Gottheit entgegen.
Er weigert ihr die Unterwerfung, gleich dem

Tragödienhelden der frühen Zeit (und man sieht
von hier aus, daß Haltung und Schicksal der
Plastik mit der Haltung und dem Schicksal der
großen Tragödie weitgehend zusammenfällt;
auch Tragödie des höchsten Ranges ist nur da
möglich, wo es noch ein tieferes Recht des Men-
schen gibt, sich dem Gott entgegenzustellen . .).

In der Welt der christlichen Plastik hingegen
(und ihr gehört nicht nur die dem Kultus die-
nende Plastik an, sondern auch die ganze welt-
liche Skulptur des nachheidnischen Europa) lebt
unabweisbar vor allem das Gefühl der Vergäng-
lichkeit und das Gefühl der Eingefügtheit in
den mächtigen Zusammenhang. Der vereinzelten
Gestalt fehlt die letzte Sicherung und Härte: ein
Sehnen zieht sie über sich hinaus. Es fehlt ihr die
letzte Abgelöstheit vom mütterlichen Element.
Wenn noch bei Rodin sich die Gestalt dem
Muttergestein gewaltsam entringt, so spricht
er diese Gefühle aus, obschon er von privater
Gläubigkeit sicherlich sehr weit entfernt war.

Dies ist das Wort, das wir hier sagen wollten,
nicht ohne zu glauben, daß es der Mühe wert
sei, darüber nachzudenken — vorausgesetzt,
daß dies mit Vorsicht und aus Kenntnis des
Menschen und seiner Geschichte geschieht. —
 
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