INNEN-DEKORATION
11
PROFESSOR EMANUEL VON SE1DL. VILLA DR. RICHARD STRAUSS-OARM1SCH.
EMANUEL VON SEIDL—MÜNCHEN.
VON WILHELM MICHEL -MÜNCHEN.
Der höchste Wert, den uns die Werke der freien
Kunst vermitteln, ist schließlich der Mensch, dessen
Persönlichkeit, sie zur Darstellung bringen. Wobei zu
beachten bleibt, daß eine Persönlichkeit immer mehr
ist als eine Person, ja sogar vielmehr als alle Personen
zusammengenommen. Eine Persönlichkeit ist schließ-
lich nichts anderes als ein Weltbild — eine Definition, die
ich den Zeitgenossen empfehlen möchte. Denn sie
deutet gleichermaßen den subjektiven wie den objektiven
Gehalt des Begriffes »Persönlichkeit« an. Sie ist ein »Bild«,
also etwas individuell organisiertes; aber ein Bild der
»Welt«, der überindividuellen Organisation kat'exochen.
Die freie Kunst vermittelt uns in erster Linie Persön-
lichkeiten. Warum sollte das nicht auch bei der ange-
wandten Kunst zutreffen ? Der Stoff ist hier zwar wesent-
lich spröder, der Ausdruck weniger knapp und gedrängt,
die Widerstände des Materials zäher. Aber schließlich
prägt sich im spröderen Stoff, im weitläufigeren Ausdruck
und im widerspenstigeren Material die plastische Kraft
des Schöpfers ebenso deutlich aus wie in Linie und
Farbe. Der Geist besiegt all diese Hemmungen und
lehrt, ein zweiter Orpheus, Totes und Ungelehriges sich
seinem Rhythmus fügen. Und am Ende reden Bau-
werke mit ungefügigerer Zunge ebenso deutlich von der
Kraft und dem Ethos ihrer Schöpfer wie die Gemälde
und die schmiegsamen tönenden Gestaltungen der Musik.
— Ich habe bisher noch keine Gelegenheit gehabt,
mich über die Schöpfungen Emanuel vonSeidls zu äußern.
Um so mehr fühle ich mich gedrängt, festzustellen,
wie sehr gerade die Schöpfungen dieses Meisters die
Gabe der Rede besitzen, wie deutlich sie von der Geduld,
der Liebe, der Ausdauer und dem vornehmen Sinne des
Meisters Zeugnis geben. Ich denke dabei besonders an das
kleine »Gloriettl«, ein Parkhäuschen am Weiher seines
Landhauses in Murnau: Das ist doch wohl eine Schöpfung,
in Sprache und Ausdruck so beredt wie ein Lied von
Eichendorff. Es wirkt wie ein vertrauliches Wort zu
guter Stunde, wie eine ganz persönliche Mitteilung. Und
diese Wirkung ist unmittelbar erwärmend. Es ist in
dieses kleine Bauwerk wie in das Landhaus selbst viel
Liebe »hineingeheimnißt«, und dieses Geheimnis wird
offenbar im Eindruck, den der Beschauer empfängt.
Was Emanuel v. Seidls Landhaus in Murnau aus-
zeichnet , ist dasselbe, was schon lange an seinen
Schöpfungen bemerkbar wird: die einzige Verbindung
der strengen modernen Linie mit der Wärme, der An-
mut, der Plauderhaftigkeit der früheren Dekoration. Jede
einzelne Form verrät durchaus den Geist der neuen
Zeit, und doch liegt im Arrangement des Ganzen etwas,
das altvertraut und bekannt anmutet. Dabei wirkt
1910. i. 2.
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PROFESSOR EMANUEL VON SE1DL. VILLA DR. RICHARD STRAUSS-OARM1SCH.
EMANUEL VON SEIDL—MÜNCHEN.
VON WILHELM MICHEL -MÜNCHEN.
Der höchste Wert, den uns die Werke der freien
Kunst vermitteln, ist schließlich der Mensch, dessen
Persönlichkeit, sie zur Darstellung bringen. Wobei zu
beachten bleibt, daß eine Persönlichkeit immer mehr
ist als eine Person, ja sogar vielmehr als alle Personen
zusammengenommen. Eine Persönlichkeit ist schließ-
lich nichts anderes als ein Weltbild — eine Definition, die
ich den Zeitgenossen empfehlen möchte. Denn sie
deutet gleichermaßen den subjektiven wie den objektiven
Gehalt des Begriffes »Persönlichkeit« an. Sie ist ein »Bild«,
also etwas individuell organisiertes; aber ein Bild der
»Welt«, der überindividuellen Organisation kat'exochen.
Die freie Kunst vermittelt uns in erster Linie Persön-
lichkeiten. Warum sollte das nicht auch bei der ange-
wandten Kunst zutreffen ? Der Stoff ist hier zwar wesent-
lich spröder, der Ausdruck weniger knapp und gedrängt,
die Widerstände des Materials zäher. Aber schließlich
prägt sich im spröderen Stoff, im weitläufigeren Ausdruck
und im widerspenstigeren Material die plastische Kraft
des Schöpfers ebenso deutlich aus wie in Linie und
Farbe. Der Geist besiegt all diese Hemmungen und
lehrt, ein zweiter Orpheus, Totes und Ungelehriges sich
seinem Rhythmus fügen. Und am Ende reden Bau-
werke mit ungefügigerer Zunge ebenso deutlich von der
Kraft und dem Ethos ihrer Schöpfer wie die Gemälde
und die schmiegsamen tönenden Gestaltungen der Musik.
— Ich habe bisher noch keine Gelegenheit gehabt,
mich über die Schöpfungen Emanuel vonSeidls zu äußern.
Um so mehr fühle ich mich gedrängt, festzustellen,
wie sehr gerade die Schöpfungen dieses Meisters die
Gabe der Rede besitzen, wie deutlich sie von der Geduld,
der Liebe, der Ausdauer und dem vornehmen Sinne des
Meisters Zeugnis geben. Ich denke dabei besonders an das
kleine »Gloriettl«, ein Parkhäuschen am Weiher seines
Landhauses in Murnau: Das ist doch wohl eine Schöpfung,
in Sprache und Ausdruck so beredt wie ein Lied von
Eichendorff. Es wirkt wie ein vertrauliches Wort zu
guter Stunde, wie eine ganz persönliche Mitteilung. Und
diese Wirkung ist unmittelbar erwärmend. Es ist in
dieses kleine Bauwerk wie in das Landhaus selbst viel
Liebe »hineingeheimnißt«, und dieses Geheimnis wird
offenbar im Eindruck, den der Beschauer empfängt.
Was Emanuel v. Seidls Landhaus in Murnau aus-
zeichnet , ist dasselbe, was schon lange an seinen
Schöpfungen bemerkbar wird: die einzige Verbindung
der strengen modernen Linie mit der Wärme, der An-
mut, der Plauderhaftigkeit der früheren Dekoration. Jede
einzelne Form verrät durchaus den Geist der neuen
Zeit, und doch liegt im Arrangement des Ganzen etwas,
das altvertraut und bekannt anmutet. Dabei wirkt
1910. i. 2.