GEGEN DIE BIEDERMEIEREI.
VON DR. EMIL UT1TZ—PRAG.
Nieder mit der Stilnachäfferei!« so tönte wild das
Schlachtgeschrei der Führer der neuen Be-
wegung ; und vielen ist es heute eine theoretische
Selbstverständlichkeit, daß unsere Bedürfnisse und
Wünsche sich nicht in die Hüllen überlieferter Ge-
staltungen pressen lassen, sondern sich eigene, ihnen
gemäße Formausprägungen erzwingen müssen. Zweck-
mäßigkeit, Sachlichkeit, Materialechtheit, harmonische
oder charakteristische Verhältnisse, Linien-, Flächen-
und Massenrhythmik, Farbenzusammenklänge usw., das
sind die Schaffensprinzipien, die dem Wesen der Sache
entquellen, und nicht die »Stilformen«, die auf die
betreffenden Gegenstände aufgepappt werden, angeblich
aus Gründen der Schönheit. Die solches tun, be-
denken nicht, daß Stile doch auch mit Notwendigkeit
herauswachsen aus Bedingungen, die Zeit und Ort
stellen, aus kulturellen Einflüssen mannigfachster Art,
aus dem Wesen unseres ganzen Lebens und der Be-
sonderheit unserer Stellungnahme zu den unzähligen
Dingen der Welt, aus dem Stande der Technik und
der Eigenart des Materials usw. Darum tritt der echte
Stil« als etwas Organisches auf, als etwas untrennbar
in seinem Träger liegendes, nicht aber als etwas von
außen Hinzugekommenes. So wandten sich also unsere
neuen Künstler von dieser äußerlichen Stilkomödie ab,
hinter der die Tragödie vollständigen Stilmangels stand,
und schufen ihre Aufgaben in verständnisvoller Durch-
arbeitung und mit ästhetischem Taktgefühl von innen
heraus, folgend den Gesetzen, die in ihnen lagen, aus
ihrer Besonderheit sich ergaben.
Umso auffallender muß es uns berühren, wenn wir
daran denken, daß wir mitten in einer Biedermeier-
periode stehen, die sich nicht nur in einer überaus
großen Anzahl von Raumgestaltungen und Raumaus-
stattungen offenbart, sondern auch in der Architektur
und vor allem sogar in tausend Kleinigkeiten, wie etwa
Damentäschchen, Menukarten, Zierleisten usw. Das
Vorhandensein dieser Mode leugnen zu wollen, wäre
ganz vergeblich; ja man muß sogar noch mehr zu-
geben : sie hat die neue Bewegung durchsetzt und da-
durch zum Teil in ihr fremde Bahnen getrieben.
Es liegt mir wahrlich ganz fern, historische Be-
einflussungen oder das Anknüpfen an Traditionen all-
gemein ablehnen zu wollen; im Gegenteil: ich halte es
für einen sehr gesunden Zug in unserer neuen Be-
wegung, daß ihre führenden Geister sich nicht von
den Irrlichtern falscher Originalitätshascherei gängeln
lassen, sondern weise von dem Guten früherer Zeiten
lernen. Nur verwechsle man nicht: lernen und nach-
ahmen. Als im achtzehnten Jahrhundert Winckelmann
seine Stimme erhob, die Antike sei unübertrefflich,
und dem modernen Künstler bleibe keine andere Wahl,
als diesem Ideal nachzueifern und sich ihm durch
Nachahmung möglichst zu nähern, folgte eine ganze
Schar von Künstlern diesem Rufe und — mißverstand
die Antike, deren lebensvoller, blühender Organismus
VON DR. EMIL UT1TZ—PRAG.
Nieder mit der Stilnachäfferei!« so tönte wild das
Schlachtgeschrei der Führer der neuen Be-
wegung ; und vielen ist es heute eine theoretische
Selbstverständlichkeit, daß unsere Bedürfnisse und
Wünsche sich nicht in die Hüllen überlieferter Ge-
staltungen pressen lassen, sondern sich eigene, ihnen
gemäße Formausprägungen erzwingen müssen. Zweck-
mäßigkeit, Sachlichkeit, Materialechtheit, harmonische
oder charakteristische Verhältnisse, Linien-, Flächen-
und Massenrhythmik, Farbenzusammenklänge usw., das
sind die Schaffensprinzipien, die dem Wesen der Sache
entquellen, und nicht die »Stilformen«, die auf die
betreffenden Gegenstände aufgepappt werden, angeblich
aus Gründen der Schönheit. Die solches tun, be-
denken nicht, daß Stile doch auch mit Notwendigkeit
herauswachsen aus Bedingungen, die Zeit und Ort
stellen, aus kulturellen Einflüssen mannigfachster Art,
aus dem Wesen unseres ganzen Lebens und der Be-
sonderheit unserer Stellungnahme zu den unzähligen
Dingen der Welt, aus dem Stande der Technik und
der Eigenart des Materials usw. Darum tritt der echte
Stil« als etwas Organisches auf, als etwas untrennbar
in seinem Träger liegendes, nicht aber als etwas von
außen Hinzugekommenes. So wandten sich also unsere
neuen Künstler von dieser äußerlichen Stilkomödie ab,
hinter der die Tragödie vollständigen Stilmangels stand,
und schufen ihre Aufgaben in verständnisvoller Durch-
arbeitung und mit ästhetischem Taktgefühl von innen
heraus, folgend den Gesetzen, die in ihnen lagen, aus
ihrer Besonderheit sich ergaben.
Umso auffallender muß es uns berühren, wenn wir
daran denken, daß wir mitten in einer Biedermeier-
periode stehen, die sich nicht nur in einer überaus
großen Anzahl von Raumgestaltungen und Raumaus-
stattungen offenbart, sondern auch in der Architektur
und vor allem sogar in tausend Kleinigkeiten, wie etwa
Damentäschchen, Menukarten, Zierleisten usw. Das
Vorhandensein dieser Mode leugnen zu wollen, wäre
ganz vergeblich; ja man muß sogar noch mehr zu-
geben : sie hat die neue Bewegung durchsetzt und da-
durch zum Teil in ihr fremde Bahnen getrieben.
Es liegt mir wahrlich ganz fern, historische Be-
einflussungen oder das Anknüpfen an Traditionen all-
gemein ablehnen zu wollen; im Gegenteil: ich halte es
für einen sehr gesunden Zug in unserer neuen Be-
wegung, daß ihre führenden Geister sich nicht von
den Irrlichtern falscher Originalitätshascherei gängeln
lassen, sondern weise von dem Guten früherer Zeiten
lernen. Nur verwechsle man nicht: lernen und nach-
ahmen. Als im achtzehnten Jahrhundert Winckelmann
seine Stimme erhob, die Antike sei unübertrefflich,
und dem modernen Künstler bleibe keine andere Wahl,
als diesem Ideal nachzueifern und sich ihm durch
Nachahmung möglichst zu nähern, folgte eine ganze
Schar von Künstlern diesem Rufe und — mißverstand
die Antike, deren lebensvoller, blühender Organismus