MATERIAL UND TECHNIK.
Die überaus hohe Wertung der Rohstoffe und Mate-
rialien ist bedingt durch die glänzende Leistungs-
fähigkeit der Technik. Es gibt heute kaum einen Roh-
stoff, der nicht zu meistern wäre, dessen man nicht
Herr zu werden vermöchte; es gibt auch kaum ein
Material, das nicht durch Arbeit veredelt und zu einem
Vielfachen seines ursprünglichen, vielleicht geringen
Wertes gesteigert werden könnte. Man hat in jüngerer
Zeit von einer Material-Vergewaltigung gesprochen,
und die Schriftsteller, die dieses Material-Verbrechen
unter die Sonde nahmen, haben natürlich damit gleich
wieder einen Mangel an Gesinnungstüchtigkeit und die
Gefährdung sittlicher Momente der Arbeit gewittert,
wenn jemand mit seinem stärkeren Willen und taug-
licheren Mitteln einen widerspenstigen Holzknüppel bog
oder einen anderen, nicht minder spröden Stoff in ihm
unangenehme Formen zwang. Auf alle Fälle heißt es
bei der Technik bei allen solchen Versuchen zunächst
»biegen oder brechen«. Gelingt der Versuch, das
Biegen, es sei nur an die berühmte Wiener und
Rabenauer Holzindustrie dieser Verarbeitung erinnert,
dann handelt es sich um einen Sieg der Technik und
eine glänzende Materialprobe. Von einer Vergewaltigung
kann da aber keine Rede sein; denn bräche das Holz,
so hätte nicht dieses, sondern die Technik versagt;
dann könnte man aber schon besser von Materialmord
sprechen, und das wäre doch Gefühlsduselei. Stoff und
Kraft haben sich noch immer an einander gemessen,
sie haben einander nichts genommen, sondern gegeben.
Die Überwindung von Widerständen, gleich welcher
Art, gelang allezeit nur durch Ausdauer und Klugheit,
durch Anpassung und Kompromisse. Ein Material, das
dabei versagt, lehnt sich nur gegen eine unangemessene
Verarbeitung auf, es warnt damit vor seiner Entwertung.
Und die Geschichte der Technik lehrt ja auch, daß
ihre Entwicklung zur Höhe zugleich einen Triumph des
Materials umfaßt; solange die Technik Möglichkeiten
findet, die Nutzanwendung eines Materials oder Roh-
stoffes weiterhin zu steigern, sei es nach der Seite
größerer Ergiebigkeit, so in der Feinheit und Stärke
von Fäden, in Färbeprozessen, in der Verarbeitung von
Glas zu Gespinsten und Geweben (rein zu chemischen
Zwecken), in der Profilstärke und Länge von Walzeisen
und Konstruktionen daraus, oder neuerdings in Holz-
erzeugnissen aus gesperrten und gebogenen Holzlagen,
so wäre darin nirgends ein Verstoß zu erblicken. Was
heißt es übrigens: einem Materiale Gewalt antun, wenn
dieses nirgendswo ächzt und stöhnt, sich gefahrdrohend
durchbiegt, reißt, knickt oder sich gar gegen eine ihm
aufgedrungene, unwürdige oder über seine Kraft und
Leistung gehende Inanspruchnahme auflehnt. Treten
solche Erscheinungen zutage, dann ist nicht — abge-
sehen von ausgesprochenen Materialfehlern — das
Material, sondern die Technik daran schuld. Wir bauen
doch auch nicht erst Kanonen und suchen und erfinden
dazu passende Explosivstoffe, sondern der Werdegang
ARCHITEKT A. CUTTAT-ST. GALLEN. WOHNZIMMER IN EICHE. VILLA LABHARD-ETTER. AUSFÜHRUNG: J. KELLER—ZÜRICH.
1910. VI. 2.
Die überaus hohe Wertung der Rohstoffe und Mate-
rialien ist bedingt durch die glänzende Leistungs-
fähigkeit der Technik. Es gibt heute kaum einen Roh-
stoff, der nicht zu meistern wäre, dessen man nicht
Herr zu werden vermöchte; es gibt auch kaum ein
Material, das nicht durch Arbeit veredelt und zu einem
Vielfachen seines ursprünglichen, vielleicht geringen
Wertes gesteigert werden könnte. Man hat in jüngerer
Zeit von einer Material-Vergewaltigung gesprochen,
und die Schriftsteller, die dieses Material-Verbrechen
unter die Sonde nahmen, haben natürlich damit gleich
wieder einen Mangel an Gesinnungstüchtigkeit und die
Gefährdung sittlicher Momente der Arbeit gewittert,
wenn jemand mit seinem stärkeren Willen und taug-
licheren Mitteln einen widerspenstigen Holzknüppel bog
oder einen anderen, nicht minder spröden Stoff in ihm
unangenehme Formen zwang. Auf alle Fälle heißt es
bei der Technik bei allen solchen Versuchen zunächst
»biegen oder brechen«. Gelingt der Versuch, das
Biegen, es sei nur an die berühmte Wiener und
Rabenauer Holzindustrie dieser Verarbeitung erinnert,
dann handelt es sich um einen Sieg der Technik und
eine glänzende Materialprobe. Von einer Vergewaltigung
kann da aber keine Rede sein; denn bräche das Holz,
so hätte nicht dieses, sondern die Technik versagt;
dann könnte man aber schon besser von Materialmord
sprechen, und das wäre doch Gefühlsduselei. Stoff und
Kraft haben sich noch immer an einander gemessen,
sie haben einander nichts genommen, sondern gegeben.
Die Überwindung von Widerständen, gleich welcher
Art, gelang allezeit nur durch Ausdauer und Klugheit,
durch Anpassung und Kompromisse. Ein Material, das
dabei versagt, lehnt sich nur gegen eine unangemessene
Verarbeitung auf, es warnt damit vor seiner Entwertung.
Und die Geschichte der Technik lehrt ja auch, daß
ihre Entwicklung zur Höhe zugleich einen Triumph des
Materials umfaßt; solange die Technik Möglichkeiten
findet, die Nutzanwendung eines Materials oder Roh-
stoffes weiterhin zu steigern, sei es nach der Seite
größerer Ergiebigkeit, so in der Feinheit und Stärke
von Fäden, in Färbeprozessen, in der Verarbeitung von
Glas zu Gespinsten und Geweben (rein zu chemischen
Zwecken), in der Profilstärke und Länge von Walzeisen
und Konstruktionen daraus, oder neuerdings in Holz-
erzeugnissen aus gesperrten und gebogenen Holzlagen,
so wäre darin nirgends ein Verstoß zu erblicken. Was
heißt es übrigens: einem Materiale Gewalt antun, wenn
dieses nirgendswo ächzt und stöhnt, sich gefahrdrohend
durchbiegt, reißt, knickt oder sich gar gegen eine ihm
aufgedrungene, unwürdige oder über seine Kraft und
Leistung gehende Inanspruchnahme auflehnt. Treten
solche Erscheinungen zutage, dann ist nicht — abge-
sehen von ausgesprochenen Materialfehlern — das
Material, sondern die Technik daran schuld. Wir bauen
doch auch nicht erst Kanonen und suchen und erfinden
dazu passende Explosivstoffe, sondern der Werdegang
ARCHITEKT A. CUTTAT-ST. GALLEN. WOHNZIMMER IN EICHE. VILLA LABHARD-ETTER. AUSFÜHRUNG: J. KELLER—ZÜRICH.
1910. VI. 2.