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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 38.1922-1923

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Hagen, Oskar: Goethes Augenkultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.14165#0283

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OTTO DILL ZEICHNUNG

GOETHES AUGENKULTUR Anschauung bereits geistig verarbeiteten Ein-
heitsform aus und wendet ihre Erfahrung auf

Lassen wir noch einmal Goethe ein Beispiel die Natur an. Die Kunst wird ihm zur un-
-i sein. Er ist vielleicht der vollkommenste mittelbaren Lehrmeisterin der Optik. „Die Ver-
Typus eines Augenmenschen in der ganzen gleichung mit der Natur" erhöht ihm den Wert
neueren deutschen Kulturgeschichte. Er hat es der Natur. Er erfährt aus den Kunstwerken,
selbst gesagt: „Das Auge ist vor allen andern wie sich die Erscheinungen draußen gegen-
das Organ gewesen, mit welchem ich die Welt seitig bedingen, wie eins das andere trägt, wie
erfaßte". Nun ist eine ungewöhnliche Sehanlage es nichts Isoliertes, sondern nur Zusammen-
mitsamt einer nach Anschauung verlangenden hängendes, nichts Absolutes, sondern Relatives
Phantasie seine natürliche Mitgift gewesen. gibt. Er lernt Einheitskomplexe im ganzen er-
Seine Sehkultur aber hat er nicht in vollem fassen, verwandte Formen zusammenbeziehen,
Umfange mitgebracht, sondern hat das Beste Wesentliches also vom Belanglosen sondern
davon erst mühsam durch rastlose, systema- und erkennt zuletzt: „Bezüge sind das Leben."
tische Arbeit erworben. Man sehe zu, wie dieser Diese Vorschule, fortwährend betrieben, unter-
unablässige Übungsgang organisiert ist und wie stützt durch Zeichnen und Vergleichen, ist von
die wachsenden Anschauungsfähigkeiten sein gewaltigem Nutzen für sein eigenes reines Den-
Wachstum auf allgemein geistigem Gebiet för- ken, das ja nur „ein Anschauen und Darstellen im
dern, wie eins das andere fortgesetzt begleitet! Geiste" war. Diese, seine großartigste Energie,
Man kann dann aus diesem einen Exempel ab- in unmittelbarer Betrachtung der sinnlich-kon-
nehmen, wie es um die allgemeine kulturelle kret faßbaren Dinge Zusammenhang und Idee
Bedeutsamkeit der Kunst bestellt ist. Als Jüng- derselben zu erkennen, beruht vor allem auf
ling entdeckte er in Dresden die Fähigkeit, „mit der Schulung seiner optischen Organe. Über
den Augen gewisser Künstler zu sehen". Wich- diesen Zusammenhang war niemandbesser unter-
tiger: er geht jetzt — und hat es hinfort nie richtet als Goethe selber, der seine optischen
anders gehalten — von dem gestaltenden Sehen Funktionen ausgebildet hat, wie ein hellenischer
des Bildners, also von der für die synthetische Wettkämpfer seinen physiologischen Organis-

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